Der Riese

[109] Unversehens kam einmal ein Hütebub in eine Berghöhle und erblickte da zu seinem Schrecken einen Mordskerl von einem Riesen. Der saß an einem Tisch, stützte den schweren Kopf auf die Hand und schnarchte wie ein Trompeter. Der Bub hatte keinen Schneid, den langen Lümmel aufzuwecken, und lief Hals über Kopf in das Dorf.

Keuchend erzählte er den Bauern, was er gesehen habe und wie er bei dem grausigen Anblick erschrocken sei. Die Bauern, die das hörten, rissen die Mäuler auf wie nicht gescheit, und den meisten flatterte bei dem bloßen Hören das Herz wie der Schweif eines Lämmleins.

Die zwölf tapfersten aber stellten sich zusammen und beschlossen hinauszugehen, um dem Riesen den Garaus zu machen. Denn sie dachten sich: So einen Nachbar zu haben ist doch nicht recht, und wenn er tot wäre, könnte es auch was tragen. Er wird doch auch was in seiner Höhle haben. Sie gingen nun alle zwölfe hinaus und schlichen sich in die Höhle hinein. Sie fanden den Kerl noch im tiefen Schlaf, und neben ihm sahen sie Schwert und Spieß liegen.

Wie mit einem Griff tappten alle zwölfe nach dem schweren Spieß und stießen ihn nach einem kräftigen Schwung dem Riesen ganz durch den Leib. Durch den Stoß geriet er in Bewegung, und die Bauern glaubten nicht anders, als daß es ihnen jetzt schlimm ergehe, weil er schon anfange sich zu regen. Sie machten alle rechtsum und liefen mit solcher Hast in das Dorf, daß einer den andern fast überrannte.

Im Dorf erzählten sie den Leuten, was das für eine gräßliche Geschichte gewesen sei mit dem Riesen, wie er über sie hergefallen[109] sei und sie sich nur mit knapper Not gerettet hätten. Da war ein Schrecken im Dorf, als ob der jüngste Tag käme und alt und jung und klein und groß mußte sich rüsten, um gegen den Riesen auszuziehen.

Nach langer Zeit kam es endlich zum Auszug. Mit lautem Herzklopfen wanderte das ganze Dorf der Höhle zu. Wie sie da ankamen, war freilich von dem Riesen nichts anderes mehr übrig als die Knochen, mit Staub bedeckt. Denn die Rüstung hatte so lange gedauert, daß der Leichnam völlig verfault war.

Aber auch diese wenigen Überbleibsel vom Riesen setzten die Leute so in Schrecken, daß sie schnell Bäume und Sträucher umhauten und vor die Höhle schleppten. So verrammelten sie den Eingang, damit etwa der Riese gewiß nimmer herauskäme.


(mündlich aus dem Oberinntal)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 109-110.
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