Die Drude

[176] Es war einmal ein steinreicher Herr, und dieser hatte eine absonderliche Magd. Sie ging jede Nacht aus und kam oft erst am frühen Morgen zurück, weil sie eine Drude war und einen großen Trieb in sich fühlte, andere zu drücken. Um dies zu tun, schlich sie in dunkler Nacht in die Schlafzimmer und drückte die Schläfer so, daß sie nicht mehr imstande waren, sich zu bewegen.

Dies nächtliche Ausgehen blieb dem Herrn nicht lange geheim, er ließ die Magd vor sich kommen und fragte sie, warum sie nachts immer fortgehe. Sie solle es nur offen eingestehen, denn eine Lüge würde ihr doch nichts nützen.

Da nahm sich die Magd kein Blatt vor den Mund, gestand alles offen ein und sprach: »Haben Sie Erbarmen mit mir, gnädiger Herr! Ich gehe nicht aus freier Wahl zur Nachtzeit aus, sondern weil ich muß. Denn ich wurde in einer unglücklichen Stunde geboren und bin deshalb eine Drude. Es drängt und treibt mich, etwas Lebendiges zu drücken, und mir kann nicht geholfen werden, bevor ich nicht etwas Lebendiges totdrücken darf.«

Als der Herr dies hörte, hatte er Mitleid mit der aufrichtigen Magd und sprach: »Wenn dir so geholfen werden kann, dann sei getrost. Du sollst geheilt werden. Du kannst mein bestes Pferd, das ich im Stall habe, erdrücken.«

Die Magd war mit dieser Erlaubnis sehr zufrieden und dankte für die Gnade. In der folgenden Nacht ging sie wirklich in den Stall und kam erst morgens wieder zurück. Man fand das Pferd tot im Stall, sie aber war von ihrem Drang erlöst.


(mündlich aus Reutte)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 176.
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