Die Wirtin

[283] Vor langer Zeit war einmal eine Wirtin, die führte einen schlechten Lebenswandel und war weitum verrufen wegen ihrer nichtsnutzigen Sitten.

Da kam einmal ein vornehmer Herr in das Wirtshaus und wollte dort über Nacht bleiben. Als er gegessen und getrunken hatte, sagte er zur Kellnerin: »Sei doch so gut und halte heute nacht Wache vor meinem Zimmer. Ich zahle dir dafür fünfhundert Gulden.«

Die Kellnerin wollte sich dazu nicht verstehen und sagte: »Bei Nacht will ich lieber schlafen als Wache stehen.«

Die Wirtin, die vom Begehren des Fremden hörte, ging zu ihm und sagte: »Wache stehn will schon ich; ich fürchte mich nicht.«

Als es Nacht war und der Herr sich in sein Zimmer gesperrt hatte, da ging die Wirtin vor die Tür hinauf und stand Wache.[283]

In der Nacht hörten die Leute Seufzen und Stöhnen vor der Tür, aber niemand ging schauen, was es gebe. Am anderen Morgen lag die Haut der Wirtin vor der Tür und dabei die fünfhundert Gulden. Das übrige hatte der Teufel geholt.


(gehört von einer Passeierin in Meran)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 283-284.
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