7. Der Geierstein.

[166] In den Gebirgen, aus denen die rauschende Neutra ihre Wellen rollt, wandelte unzufriedenen Sinnes einst Kalad, ein Krieger und Jäger, und suchte den düstern Unmuth, der ihn beherrschte, durch das Blut der Thiere des Waldes zu kühlen. Hoch über ihm zog kreischend ein Geier seine weiten Kreise, und der Jäger sandte aus rasch gespannter Armbrust den tödtlichen Pfeil empor. Doch der Schuß ging fehl, und durch den dunkeln Tannenforst gellte eine helle Stimme, wie Hohngelächter; der Geier flog waldeinwärts.

Ergrimmt folgte der Jäger der Richtung, die der Raubvogel nahm, und sandte, als er diesen abermals erblickte, einen zweiten Pfeil nach ihm hin. Aber unverletzt blieb der Geier, und nur lauter scholl durch den Wald das verhöhnende Gelächter. Wild blickte Kalad umher und ersah plötzlich die unheimliche Gestalt eines hagern und fahlen Mannes, der ruhig in einiger Entfernung stand.

»Wer bist Du?« fuhr Kalad den Unbekannten herrisch an; und dieser erwiederte: »Ein Jäger, wie Du, nur daß ich bessere Pfeile habe und ein besseres Geschoß. Probire es!«[167]

»Mein Geschoß ist erprobt, ich bedarf keines fremden!« murrte Kalad.

»So schieße, dort horstet der Geier!« sprach der Unbekannte.

Kalad zielte scharf und schoß; er sah, wie der Pfeil dem Geier, der ohnweit auf seinem Neste saß, mitten durch die Brust fuhr, und dennoch schien er nicht getroffen. Um so betroffener wurde Kalad. Der Fremde reichte ihm wiederholt seine Armbrust hin, und mit Hast ergriff sie der Schütze, zielte, schoß, und jetzt fiel, gräßlich kreischend, der Geier vom Fels herab.

»Mir das Geschoß!« rief Kalad. – »Nicht umsonst!« war des Fremden Antwort. – »Dein Begehr?« – »Ein Tröpflein Blut von Deiner Hand!« – »Für das Geschoß allein?« – »Für Alles, wonach nur immer Dein Herz begehrt.« – »Wohlan!«

Der Pact war besiegelt; von Kalads Jägerhut wehte ein dunkelfarbiger Fittig des erlegten Geiers. So lange Kalad diesen Flügel trug, war er unverwundbar und der Fremde ihm zu Dienst verpflichtet.

Kalad wurde reich, übermüthig, herrisch, ein Despot, da bald Land und Leute ihm unterthan waren. Auf dem Fels, wo der Geier gehorstet, erhob sich eine feste, stattliche Trutzburg, die nannte der Erbauer Geierstein (Keselyö-kö). Bald wimmelte von Raubgesellen und allerlei wüstem Gesindel die neue Burg, bald ward die ganze Gegend unsicher, und jammervolle Klage der durch Kalad und seine Rotten Beraubten und Unterdrückten gelangten zum Ohre des Herrschers.[168] Da ward dem Grafen von Neutra befohlen, das Banner der Gespanschaft zu erheben, und bald umringte ein Heer den festen Geierstein. Doch lange widerstand die Burg jedem Angriff. Kalads Muth aber wollte die Feinde gänzlich abtreiben, und er fiel aus. Hoch wehte von seinem Helme der Geierflügel, und auf seine Unverwundbarkeit bauend brach sich Kalad durch alle Feinde siegreich Bahn bis hin zum Haupte der Belagerer, dem Grafen. Dieser sollte von seiner Hand fallen. Schon entbrannte der Kampf, da schwirrte ein Pfeil, da flog der Geierflügel herab vom Helme Kalads, und jenes Lachen, das er einst im Walde vernommen, übertönte gellend das Getümmel der Schlacht. Und mit dem gebrochenen Flügel brach Kalads Kraft und Muth; ein Schwerthieb seines Gegners streckte ihn zu Boden.

Burg Geierstein verfiel, und die Geier horsten wieder in ihren öden Trümmerresten.

Quelle:
Bechstein, Ludwig: Die Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Oesterreich. 1. Band, Leipzig: B. Polet, 1840, S. 166-169.
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