6. Capistranus Kanzel.

[22] Am Münster zu St. Stephan wird noch die Steinkanzel gezeigt, auf welcher im Jahre 1454 der heilige Johannes Capistranus, vom Orden des heiligen Franziskus, gepredigt gegen die Sündhaftigkeit der Welt und ihre Freuden, der gewaltiglich eiferte gegen Putz und Spiel, gegen Schimpf und Scherz. So wundersam wirkte, wie die Sage geht, sein Wort, daß, obgleich er lateinisch predigte, doch von allem Volke, Männern, Frauen, Mägdlein und Knaben, seine Rede ebenso verstanden wurde, als ob er in deutscher Sprache geredet. Da strömte Alles hinzu, und die Männer brachten herbei vor die Kanzel ihre Schachzabel, Bret- und Pochspiele, ihre Karten und Bälle, die Frauen Perlen und Ringe, Schmuck und Geschmeide, Hauben und Zierkleider, Gold und Agtstein, Silber und Edelgesteine, und die holdseligen Jungfrauen schnitten ihre langen Zöpfe ab, die der eifernde Capistranus auch als sündlich verdammte. Und wenn ein großer Haufe von Schmuck und Zierrath, Spiele und Tand beisammen war, da ließ der Heilige es mit Feuer anstoßen und brannte den ganzen Haufen zu Asche.

Viele der Zuhörer thaten sich ihrer Sünden ab, thaten zerknirscht Buße, legten das härene Gewand des[23] Pater Seraphicus, Franz von Assissi an, oder griffen zum Schwerte gegen den Erbfeind der Christenheit und folgten dem heiligen Manne, der voranzog, die Schaaren gegen Mohamed zu Kampf und Sieg zu führen.

Quelle:
Bechstein, Ludwig: Die Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Oesterreich. 1. Band, Leipzig: B. Polet, 1840, S. 22-24.
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