101. Silberzahn.

[145] Es war einmal ein Fürst, der hatte drei heiratsfähige Töchter, und um diese Zeit entspann sich ein Krieg zwischen seinem Könige und einem andern. Er hob also ein Heer in seinem Reiche aus und schickte auch zum Vater jener Mädchen und ließ ihn zum Kriege aufbieten, und als dieser die Botschaft vernahm, wurde er sehr betrübt, ging in sein Haus und blieb drei Tage in großem Kummer einsam in seinem Zimmer.

Da ging seine älteste Tochter zu ihm und sprach: »Warum bist du so traurig, lieber Vater?« Und jener antwortete: »Was soll ich dir sagen, mein Kind! Unser König will seinen Nachbar mit Krieg überziehen, und er hat mich aufgeboten, mitzugehen.« Da rief das Mädchen: »Ziehe hin und kehre nicht mehr wieder! Ich Ärmste glaubte, du dächtest darüber nach, welchem Manne du mich zur Frau geben solltest.« Und nachdem sie das gesagt hatte, ging sie aus dem Zimmer und ließ ihren Vater allein.

Nach einer Weile kam auch die zweite Tochter zu dem Alten und sprach: »Lieber Vater, was hast du, daß du so traurig bist?« Und der Vater antwortete: »Was fragst du mich? So hat mich auch deine älteste Schwester gefragt, und als ich es ihr sagte, hat sie auf mich geschmäht, und nun kommst auch du; laß mich in Frieden, bis mich der Kummer ins Grab legt.«[145]

»Nein, Väterchen, ich will dich gewiß nicht schmähen, sondern mit dir auf Abhilfe denken.«

»So sprach auch jene anfangs, und dann schmähte sie mich.«

»Nein, lieber Vater, ich werde gewiß nicht so lieblos gegen dich sein.«

»Also höre, was mich quält. Unser König hat Krieg und hat mich dazu aufgeboten, und nun weiß ich nicht, wo ich euch während meiner Abwesenheit lassen soll.«

Da rief das Mädchen: »Ziehe hin und kehre nicht wieder. Ich Ärmste dachte, du wärst darüber betrübt, daß du keinen Mann für mich finden könntest.« Darauf stand sie auf und ließ den Vater allein.

Endlich ging auch die Jüngste, welche Theodora hieß, zum Vater und sprach: »Lieber Vater, warum sitzest du so bekümmert da? Willst du mir es nicht sagen?«

»Geh deiner Wege, ich war dumm genug und sagte es deinen Schwestern, und die schmähten mich dafür.«

»Aber ich werde das gewiß nicht tun, Väterchen.«

»So sprachen auch die andern anfangs, und dann taten sie es doch.«

»Aber wie könnte ich dich denn schmähen? Bist du nicht mein Vater, und ich deine Tochter?«

»Also höre, was mich quält. Unser König hat Krieg mit seinem Nachbar und hat mich aufgeboten, mitzuziehen, und nun weiß ich nicht, wo ich euch unterdessen lassen soll.«

Als die Jüngste das hörte, sprach sie: »Gräme dich nicht, lieber Vater, sondern gib mir deinen Segen und drei Anzüge, und ich ziehe statt deiner in den Krieg.«

Da ließ ihr der Vater drei Mannskleider machen und gab ihr seinen Segen, und dieser Segen verwandelte sich in ein Hündchen und zog mit ihr. Theodora nahm die[146] Kleider und den Segen und zog geradeswegs zur Königsstadt. Als sie zum Schlosse des Königs ritt, stand eine Alte vor dem Tore und sprach zu dem Königssohne: »Siehst du den jungen Mann, der da kommt und so schön von Angesicht ist? Das ist gar kein Mann, sondern ein Mädchen, und dafür setze ich meinen Kopf zum Pfande.« Als der Königssohn das hörte, staunte er über ihre Schönheit und ging vor ihr voraus zum König. Als das Mädchen vor diesem erschien, sprach es: »Ich bin ein Kriegsmann und komme infolge deines Aufgebotes aus jener Gegend und jenem Hause.« Der König sprach: »Sag' uns deinen Namen, damit wir ihn auf die Liste setzen.« Und das Mädchen erwiderte: »Ich heiße Theodor.«

Als das Mädchen hinausgegangen war, sagte der Prinz zum Könige: »Lieber Vater, der heißt nicht Theodor, sondern Theodorula, und sie hat mein Herz entflammt, denn sie ist kein Mann, sondern ein Mädchen.« Der König wollte es anfangs nicht glauben, als aber der Prinz darauf bestand, sprach er: »Ich will dir sagen, wie du es anfangen mußt, um die Wahrheit zu erfahren, und wie es sich sogleich offenbaren wird, wenn es ein Mädchen ist. Geht zusammen in jene Kaufbude, dort hängen an der einen Wand Schwerter und Pistolen, und an der andern Ringe, Halsbänder und anderes Geschmeide, und wenn es ein Mädchen ist, so wird es sogleich auf die Seite treten, wo die Ringe hängen, wenn es aber nach der Seite geht, wo die Waffen hängen, so ist es ein Mann.« Das Hündchen war aber im Gemache des Königs geblieben und hatte das Gespräch mit angehört, und nun lief es hin und erzählte alles dem Mädchen.

Am andern Morgen sprach der Prinz zu der Jungfrau: »Höre, Theodor, komme einmal mit in jene Bude, dort sind Waffen zu verkaufen.« Sie gingen also dahin,[147] und so wie die Jungfrau eintrat, wandte sie sich sogleich nach der Seite, wo die Waffen waren, betrachtete sie und handelte um sie mit dem Kaufmanne. Und als der Prinz sagte: »Wende dich einmal um und sieh' dir die schönen Ringe und Geschmeide an, die dort hängen,« antwortete sie: »Die sind für die Weiber und nicht für uns,« und würdigte sie keines Blickes. Sie kauften also zwei silberbeschlagene Pistolen und gingen wieder heim.

Der Prinz ging nun zum König und erzählte ihm, was er gesehen hatte. Da lachte dieser und sprach: »Habe ich dir nicht gesagt, daß das kein Mädchen ist?« Doch der Prinz antwortete: »Das ist ein Mädchen, Vater, die heißt Theodorula und hat mir das Herz entflammt.« Der Vater sprach: »Ich sage dir, das ist ein Mann. Weil du es aber nicht glauben willst, so versuche es noch einmal. Nimm ihn mit dir und führe ihn in jenes Schloß, das eine Treppe von siebenhundert Staffeln hat, und steige mit ihm hinauf. Wenn es ein Mädchen ist, so werden ihr dabei drei Blutstropfen entfallen, ist es aber ein Mann, so wird das nicht geschehn.« Auch dieses Gespräch hatte das Hündchen mit angehört und lief nun zu dem Mädchen und erzählte ihm alles.

Am andern Morgen sprach der Prinz zu dem Mädchen: »Höre, Theodor, wir wollen uns einmal jenes Schloß betrachten.« Als sie nun hingingen und zur Treppe kamen, sprach der Prinz zu ihr: »Gehe voraus.« Sie aber antwortete: »Du mußt vorausgehn, denn du bist des Königs Sohn.« Da ging der Prinz voraus, und sie ging hinterdrein, und als sie fast oben waren, fielen die drei Blutstropfen auf die Staffeln und das Hündchen leckte sie auf, so daß sie der Prinz nicht entdecken konnte, wie er sich oben umwandte, um nach ihnen zu sehn. Als sie nun wieder herunterstiegen, da fielen abermals drei Tropfen[148] auf die Staffeln, und das Hündchen leckte sie wieder auf, so daß sie der Prinz nicht sehen konnte, als er sich nach ihnen umwandte.

Darauf ging der Prinz zum König und sprach: »Ich habe kein Blut gesehn.« Da lachte der König und sagte: »Habe ich dir nicht gesagt, daß es ein Mann ist? Aber du willst nicht hören.« Doch der Prinz erwiderte: »Das ist ein Mädchen, die Theodorula heißt und mir das Herz verbrannt hat.« »So versuche es zum drittenmal,« sprach der König, »lade sie morgen zum Baden ein und da kannst du sehn, ob es ein Mädchen ist oder nicht.« Aber das Hündchen hatte auch dies Gespräch mit angehört und lief nun hin und erzählte es seiner Herrin.

Darauf ging das Mädchen zu einem Schneider und sprach zu ihm: »Mache mir einen Rock mit zweierlei Knöpfen, so daß, wenn ich daran bin, den einen aufzuknüpfen, der andere sich von selbst wieder zuknüpft.«

Am andern Morgen brachte ihr der Schneider den Rock und sie zog ihn an, und in aller Frühe kam auch der Prinz und sprach: »Höre, Theodor, wollen wir nicht baden gehn?« »Gut,« erwiderte die Jungfrau, und sie stiegen zu Pferd und ritten ans Meer. Als sie abgestiegen waren, sagte der Prinz zu ihr: »Nun ziehe dich aus.« Und sie erwiderte: »Ziehe dich nur aus, ich werde gleich fertig sein,« und begann einen Knopf aufzuknüpfen und dann den zweiten, aber während sie das tat, knüpfte sich der erste wieder von selbst zu. Als der Prinz sah, daß sie sich auszuziehen anfing, warf er seine Kleider ab und sprang ins Meer. Kaum aber war das geschehn, so schwang sich die Jungfrau aufs Pferd und ritt davon. Da zog der Prinz im Meere seinen Ring vom Finger und warf ihn ihr nach. Er traf das Mädchen an einen ihrer Zähne, brach ihn ab und versilberte zugleich das rückbleibende Stück ein wenig.[149]

Darauf kehrte der Prinz zu seinem Vater zurück, erzählte ihm alles, was vorgegangen war, und rief: »Ich liebe sie und will sie zum Weibe haben.« Da lachte der Vater und sprach: »Was kann ich dir helfen, wenn du sie liebst? Geh hin und suche sie auf und nimm sie zur Frau.«

Der Prinz zögerte nicht lange und brach nach der Stadt auf, in welcher die Jungfrau wohnte. Unterwegs begegnete er einem Hirten und sprach zu ihm: »Höre Hirt, wenn du mir deine Kleider gibst, so gebe ich dir die meinen.« Der Hirt aber erwiderte: »Warum willst du mir deine kostbaren Kleider geben und dafür meine groben nehmen?« Und jener sprach: »Was kümmert dich das?« Da besann sich der Hirt nicht lange und zog seine Kleider aus, gab sie dem Prinzen und erhielt dafür die seinigen.

Darauf kaufte der Prinz in einem Orte eine Anzahl Spindeln und Spindelknöpfe und ging damit in die Stadt der Theodorula. Als er in die Nähe des Hauses kam, worin sie wohnte, rief er mit lauter Stimme: »Kauft Spindeln und Spindelknöpfe,« bis die drei Schwestern herauskamen, um welche zu kaufen. Und als er sah, daß der einen ein Stück Zahn fehlte und daß der Rand des übrigen Stückes versilbert war, da erkannte er sie daran. Als ihn nun die Mädchen fragten: »Was kosten deine Spindeln?« antwortete er: »Ich verlange kein Geld dafür, sondern ein Maß Hirsen.« Da füllten sie ein Maß mit Hirse und schütteten es ihm in den Quersack; er aber stellte es so an, daß der Sack zu Boden fiel und alle Hirse herauslief. Da setzte er sich auf den Boden und las Korn für Korn auf und steckte es in seinen Quersack. Da sprachen die Mädchen: »Wir wollen dir die Hirse mit dem Besen zusammenkehren, denn wenn du sie Korn um[150] Korn auflesen willst, wirst du niemals damit fertig werden.« Dieser aber sagte: »Nein, mein Schicksal hat es einmal so bestimmt, daß ich die Hirse Korn für Korn auflesen muß.«

Da ließen ihn die Mädchen gewähren und gingen in ihre Stuben. Der Prinz aber las so lange an seiner Hirse, bis es Nacht wurde und er bemerkt hatte, an welchem Orte Theodorula schlafe, als sich die Mädchen zur Ruhe begaben. In der Nacht schlich er leise an ihr Bett und warf ein Schlafkraut auf sie; dann nahm er sie auf die Schulter und trug sie fort. Als er in die Nähe seines Schlosses kam, da fingen die Hähne zu krähen an und da sprach die Jungfrau im Schlafe: »Wie, schön krähen diese Hähne! als ob es die des Königs wären.« Der Prinz aber rief: »Die Hähne gehören dem König und das Schloß gehört dem König und sein Sohn hat dich geholt.«

Da trug er sie zu seinem Vater, hielt Hochzeit mit ihr und hat sie zur Frau bis heute.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 145-151.
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