95. Augenhündin.

[129] Es war und war nicht. – Es war einmal eine junge Frau, die war an einem fremden Orte verheiratet und fünf Jahre nicht zu ihren Verwandten gekommen.

Als sie eines Tages an der Quelle Wasser schöpfte, seufzte sie nach ihren Verwandten, und als sie so seufzte, kam eine Alte zu ihr – und das war die Augenhündin, welche vier Augen hatte, zwei vorne, zwei hinten, aber die junge Frau erkannte sie nicht, denn die zwei hinteren hatte sie mit dem Kopftuche verbunden – und fragte sie: »Warum klagst du, Töchterchen?«

Sie sagte darauf: »Ach, Frau, ich klage, weil es nun fünf Jahre sind, daß ich meinen Vater und meine Mutter nicht gesehen habe; der Weg ist weit, und ich habe niemand, mit dem ich gehen könnte.«

Da sagte die Alte: »Ich führe dich hin, Töchterchen, denn ich habe in der Gegend ein Geschäft; gehe also, schmücke dich, ich warte hier auf dich.«

Da ging die junge Frau in ihr Haus, schmückte sich und eilte zu der Alten, die an der Quelle auf sie wartete.

Sie gingen ein oder zwei Stunden Weges und kamen an einen entlegenen Ort, und dort war das Haus der Augenhündin, und ihre Tochter, die Maro hieß, saß darin.

Da merkte das Mädchen, daß die Alte die Augenhündin sei, aber sie konnte ihr nicht entwischen.

Als nun die Augenhündin ins Haus trat, befahl sie ihrer Tochter Maro, den Backofen anzuzünden, und sie selbst ging hinaus, um Holz zu sammeln.[129]

Als nun die Augenhündin fort war, da fragte das Mädchen die Maro: »Was willst du mit dem Ofen?«

Und diese sagte ihr: »Wir wollen dich braten und dann auffressen.«

»Das ist mir ganz recht, daß ihr mich auffreßt, aber gib acht, daß das Feuer nicht ausgehe.«

»Ich will schon blasen, und da brennt es.«

Und wie nun die Maro hinging, um das Feuer anzublasen, da stieß sie die junge Frau mit den beiden Händen von hinten und steckte sie in den Ofen hinein und machte die Ofentüre zu.

Bevor aber die Augenhündin zurückkam, floh die junge Frau und kehrte in Eile und großem Schrecken in ihr Dorf zurück und erzählte ihrer Mutter alles, was sie erlebt hatte; und jeder, der es hörte, der wunderte sich über den Mut, den sie gezeigt hatte, daß sie die Tochter der Augenhündin in den Ofen stieß. – Dort war ich, fand aber nichts – von dem, was ich erzählte –.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 129-130.
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