97. Das Haar der Schönen der Erde.

[131] Es waren einmal drei Brüder, die gingen in die Fremde. Auf dem Wege, den sie kamen, fanden sie ein großes Loch, welches in die Unterwelt hinabging.

Da sagten sie zu dem kleinsten: »Wenn wir dich binden und dich hinunterlassen, damit du siehst, was da drinnen ist, tust du es?«

Mit vielen Reden brachten sie ihn dahin. Sie banden ihn mit ihren Gürteln, ließen ihn hinab und ließen ihn dann los. Er fiel auf das Haus einer alten Zauberin.

»Was suchst du?« fragte ihn die Alte. »Warum kamst du hierher?«

»Mich schickte der König der Oberwelt, um ihm ein Haar von der Schönen der Erde zu holen.«

»Wie willst du dorthin kommen, Söhnchen? Die bewacht ein Hund mit drei Köpfen, der weder bei Tag noch bei Nacht schläft.«

»Wie soll ich's nun machen, Mütterchen?«

»Da hast du dieses Wasser, und wenn du dorthin kommst, so wasch dein Gesicht damit, und du wirst so dunkel werden, daß dich der Hund nicht sieht. Dann gehe hinein, und wenn die Schöne der Erde schläft, da stecke ihr ein bißchen von dieser Erde der Toten in das Ohr, damit sie dich nicht gewahr werde. Reiß' ihr ein goldenes Haar aus dem Kopfe und komme schnell hierher zu mir.«

Jener tat, wie ihm die Alte gesagt hatte, ging hinein, ohne daß ihn der Hund sah, und fand die Schöne der Erde, während sie schlief. Er warf ein Stück Erde auf sie, nahm ihr das Haar und kam zu der Alten.

»Was willst du nun?« fragte ihn die Alte.

»Ich will, daß du mich auf die Oberwelt steigen machest.«[132]

Da rief die Alte mit Zauberei alle Krähen und Raben zusammen und band ihm Fleisch in den Gürtel, und es nahmen ihn die Vögel, während sie an dem Fleische zupften und hoben ihn in die Höhe.

Als ihn die Brüder sahen, wunderten sie sich, wie er heraufgekommen sei.

Er aber sagte ihnen: »Warum ließt ihr mich fallen, ihr Narren?« Und diese sagten ihm: »Du bist uns unversehens entgleitet.«

Er aber ging zum König und brachte ihm das goldene Haar der Schönen der Erde, und dies Haar hatte das Eigene, daß der, welcher es in die Hand nahm, wie die Sonne glänzte.

Der König nahm es und gab es seinem Weibe, und jenen machte er groß und gab ihm ein großes Einkommen, und seine Brüder wurden endlich seine Diener.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 131-133.
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