Hundertzweite Geschichte

[92] geschah: Rabbi Ame spricht: »Komm her, mein lieber Sohn, un sieh wie ein groß Ding is um die wahrhaftigen Leut. Denn wenn einer dem andern eppes zusagt, da soll er es halten. Un das lernen wir von einer Gruben un von einem Wieslein. Un da lernen wir davon: Wenn doch einer der sein Emune (Treue, Wahrhaftigkeit) hat an einem Wieslein, mikolscheken (um wie viel mehr) daß einer sein Emune soll haben auf den Heiligen, gelobt sei er. Denn es geschah einmal eine Maaße (Geschichte), daß einmal ging ein Pilzel (Mädchen) aus einer Stadt, wol geziert mit köstlichen Kleidern un wollt in eine andere Stadt gehn zu ihr Vater un Mutter. Die gute Pilzel verirrt sich auf dem Weg, so daß sie in einen großen Wald kam, un ging so lang, als daß sie kam in eine Wüstenei. Un ging bis an den Abend. Un denselbigen Tag war eine große Hitz. Wie sie nun einen halben Tag gegangen war, da kam sie an einen tiefen Brunnen. Aber da war kein Eimer dran. Neiert ein Strick war dran angebunden. Un sie war gar sehr dorschtig, bis der Dorscht sie überzwang. Also macht sie sich an den Strick fest, der da hing, un ließ sich herab zum Wasser un trank sich wol an. Da nun die gute Pilzel sich wol angetrunken hat, da konnt sie nit wieder herauf kommen un sie gedacht sich, allhie muß ich sterben in diesem Brunnen. Un hebt an un schrie gar jämmerlich un trieb einen großen Jammer. Indem daß sie so einen großen Jammer trieb, da kam ein Junger daher zu gehn, un hat sich verirrt un hört das Geschrei. So ging er dem Geschrei nach un kam bei dem Brunnen. Un da er bei dem Brunnen kam, da sah er hinein. Da war der Brunnen so gar tief, daß er nit konnt derkennen was in dem Brunnen war. So ruft er herunter in den Brunnen: Was schreiet so gar jämmerlich in dem Brunnen? Bist du ein Geheuer oder bist du ein Ungeheuer?« Wie die gute Pilzel das hört, da war sie gar froh, um daß sie ein Mensch hört. Da antwortet sie auch: »Lieber, ich bin geheuer un bin ein Mensch,« un sagt ihm wie sie war in den Brunnen gekommen. Da sagt er wider sie: »Willst du mir mein Willen tan, was ich von dir werd begehren, so will ich dir heraus helfen.« Da sagt die Pilzel ja. Da sprach er wider sie: »So schwör mir drauf.« Da schwor sie ihm einen Schwur, daß sie ihm wollt seinen Willen tan. Da helft er ihr heraus. Da sie nun haußen war, da sah er erst wie sie so eine hübsche Pilzel war, un war wol geziert mit köstlichen Kleidern. Da sprach der Jung wieder: »Wolan nun halt mir, was du mir verheißen hast un tu mir mein Willen un lieg bei mir.« Da sagt sie wider ihn: »Mein lieber Freund, sag du mir, von welchem Volk bist du?« Da sagt er ihr: »Ich wohn dorten in jener Stadt un bin ein Kohen (Priester).« Da sagt sie zu ihm: »Ich bin auch dorten aus jener Stadt un ich bin eine Jüdin, un ich bin von einem guten Geschlecht.« Un sagt zu ihm: »Mein lieber Freund, so ein[93] köstlicher Mann wie du bist, du bist von einer köstlichen Mischpoche (Familie) von Kohanim (Priestern) her, die der Heilige, gelobt sei er, selbert hat ausderwählt, un du begehrst da bei mir zu liegen wie ein Beheme (Vieh) ohne Kessubah (Ehevertrag) un ohne Kidduschim (Segen). Darum bitt ich dich, tu es nit, un komm mit mir zu meinem Vater, un sag ihm die Maaße (die Geschichte), wie es da mit uns gegangen is. Aber das sag ich dir, ich will von itzunder an entspust sein von dir, un will keinen andern Mann nehmen sonder dich.« Da sprach er: »Wer soll aber Edus (Zeuge) sein, daß wir uns aneinander entspust haben?« Da sprach sie: »Das klein Wieslein, das da lauft vor uns her, un der Brunnen, un die Himmel sollen Edus sein, daß wir von uns beiden keiner an den andern brechen sollen.« Un damit scheiden sie sich von einander. Ein jeglicher ging seinen Weg hin. Der Mann zug zu seiner Stadt zu. Un die Pilzel zug auch zu ihrer Stadt. Un sagten, wir werden zueinander kommen, wenn es Gottes Willen wird sein. Nun, es stund an einem Jahr oder zwei, daß die Pilzel ihren Schwur hat gehalten, un wollt keinen Mann nit nehmen, denn man hat ihr viele Männer geredet, sie wollt aber keinen haben, un macht sich meschugge (verrückt), damit daß die Schadchonim (Heiratsvermittler) nimmer zu ihr Vater sollten kommen um für sie einen Schidduch (Heirat) zu reden. Aber sie sagt doch nix von der Geschichte wie es ihr gangen war un blieb so bei ihrem Schwur. Aber der Jung, der hat an seinen Schwur nit gedacht, un nahm ein ander Weib un kriegt ein Kind mit ihr. Un wie das Kind ein halb Jahr alt war, da kam ein Wieslein un beißt dem Kind die Kehl ab, daß es sturb. Dernach gewann sie wieder einen Sohn. Da fiel es in einen Brunnen hinein un sturb. Da trieb die Mutter einen großen Jammer un sprach: »Wenn mir meine Kinder wären gestorben, wie einem pflegt zu sterben, so tät es mir nit bang. Aber, daß uns die zwei Kinder so gar meschunne (verdreht) sind gestorben, so werden wir's gewiß versündet haben, ich oder du. Lieber, sag mir, was sind deine Werke, die du getan hast? Lieber Mann, bedenk dich doch recht.« Da war er seufzen, un sagt ihr die Geschichte, wie es ihm dergangen war mit der Pilzel. Da sprach sie: »Nun seh ich wol, daß es von dem, dessen Name gelobt sei, is. Da müssen wir uns scheiden. Denn unser Kinder sterben uns doch alle. Drum geh du ja hin un halt deinen Schwur, den du getan hast.« Also gaben sie sich beide Get (den Scheidebrief). Also ging er in die Stadt, da die vorige Pilzel drinnen war, un ging zu ihrem Vater un begehrt seine Tochter zu einem Weib. Da sagt der Vater: »Was soll ich ihr einen Mann geben, sie is doch meschugge (verrückt) un is derzu nit gesund im Kopf (bewahrt soll man davor sein).« Da das der Jung hört, konnt er wol massig sein (verstehen), warum sie sich so macht. Un spricht zum Vater: »Gebt mir sie, ich will mich unterstehn das Böse zu vertreiben«, un sagt ihm die[94] Geschichte, wie es mit ihr gegangen war. Wie der Pilzel ihr Vater das hört, so gab er sie ihm zu einem Weib, un die Pilzel war auch wol zufrieden mit ihm, denn sie kennt ihn noch gar wol, dass er war, der sie entspust hat. Also gewannen sie Kinder mit einander un lebten gar wol. Auf sie hat der Posuk (die Schrift) gesagt. Der Heilige, gelobt sei er, spricht: »Meine Augen sehen an die Wahrhaftigkeit der Erden.« Un darauf hat gesagt Rabbi Jauchenen: »Wer sich unten auf dem Aulom (Welt) gerecht macht, das meint, wer hält was er einem zusagt, da macht man auf ihn den Din (das Urteil) auf dem Himmel auch gerecht.« Un der Posuk spricht (die Schrift sagt): »Die Wahrheit von der Erden sie spreizt an die Gerechtigkeit von dem Himmel. Sie tut herab lugen. Derhalben, lieben Leut, wenn einer eppes einem verspricht, soll einer nit gedenken, wenn niemand derbei is, wer will es sagen? Es is allzeit jemand dabei, den der Heilige, gelobt sei er, schickt.«

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 92-95.
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