Hundertneunundsechzigste Geschichte

[174] geschah: Rabbi Schmuel Chossid is einmal zu Speier an Jomkipur (Versöhnungstag) Chasen (Vorbeter) gewesen. So kam ein Rosche (ein Sünder) in die Schul zu gehn, der war ein Jauez (Rat) bei dem Hegmon (Statthalter). Un der Rosche sah, daß der Chossid so gar mit Kewone (Andacht) ort (betet). Da gedacht der Rosche in seinem Herzen un sprach zu seinen Gesellen, die bei ihm waren in der Schul: »Ich kann es nit lassen un muß dem Vorleser eine Schmachkeit antun, derweil er sein Gebet mit ganzem Herzen tut, un sieht mit seinen Augen als gegen den Himmel, un betet seinen Gott so gar fleißig an.« Da[174] ging der Rosche hin, un speiet dem Chossid in sein Ponim (Angesicht), denn der Rosche meint er wollt ihn irr machen in seinem Gebet. Aber der Chossid ließ sich nit irr machen un ort als fort. Un da der Rosche das sah, daß sich der Chossid nit wollt irr lassen machen, da hat der Rosche große Reue darauf, daß er dem Chossid hat in sein Ponim gespien. Un sprach zu seinen Knechten: »Ich hab gar Unrecht getan, daß ich dem Juden so eine Schmach hab angetan, denn ich seh wol, daß er ein heiliger Jud is. Un sein Gesang is gar süß un lieblich. Un ich fercht mich, daß ich eine große Sünd getan hab.« Un der Rosche grämte sich sehr, daß er solches getan hat. Den andern Tag nach Jomkipur ging der Rosche zu dem Chossid un bat ihn, er sollt ihm doch sagen warum er gestern so ernstlich gebetet hat. Da sprach der Chossid wider: »Lieber Herr, was frägt ihr mich dernach? Ihr habt mir so eine große Schmach angetan, welche mir alle meine Tage von keinem Menschen so eine Schmachheit widerfahren is. Ich will verschweigen von das andere Gespött, das ihr in der heiligen Schul getrieben habt, un das auf einen solchen heiligen Tag, als wir gestern gehabt haben. Denn gestern is der Tag gewesen, den uns Gott allmächtig gesetzt hat, daß wir den ganzen Tag in der heiligen Schul sollen bleiben, un daß Gott unsere Sünden vergibt, als da steht in unseren heiligen Büchern. Un ich hab gelacht in meinem Herzen über deine Schmachheit, die du mir hast getan. Denn ich bin versichert an meinen allmächtigen Gott, daß er uns unsere Sünden verzeiht un vergibt, um willen unserer Schmachheit, die du mir hast angetan, un von wegen unserem großen Unglück, das wir nun allzeit von euch leiden müssen. Un wir nehmen allzeit gutwillig von euch an. Un darum hab ich mein Gebet so ganz fröhlich getan un mit Andacht.« Als nun der Chossid hat ausgeredet mit viel Worten, da war der Rosche ganz derstanden, daß er nix kunt reden vor großem Schrecken. Un er bat den Chossid, er sollt es ihm verzeihn, er hätt sich nit allsoweit besonnen. Un er soll Gott von seinetwegen bitten, daß er ihm verzeihen soll, es soll all sein Tag von ihm nit mehr geschehen. Un er wollt all seine Tag abverdienen gegen die Juden, es wär mit Worten oder mit Werken, daß er es wol noch spüren soll. Der Chossid ließ ihn reden un gab ihm keine Antwort, un ließ ihn wieder so von sich hinweg gehn. Den dritten Tag kam der Rosche wieder, zum Chossid un bittet ihn viel mehr als er vormal hat gebeten, un ward alle Tag besser. Un alles was er hat gehört bei dem Hegmon von den Juden, das legt er alles zum Guten aus. Un er bat den Chossid so lang un so viel, daß der Chossid sprach: »Nun, du hast eine große Awere (Sünde) getan, daß du mir also eine große Schmachheit hast angetan, aber dieweil ich sah, daß dich hat schon so sehr gereuet die Sach, un ich hör auch von dir, wie du solche Sachen nit mehr tun willst, un du willst Juden tun, alles was ihnen lieb is, so will ich Gott bitten, daß[175] er dir verzeihen soll die Sünd. Denn es is keine bessere Sach, als nichts Böses mehr zu tun.« Also betet der Chossid zu dem Heiligen, gelobt sei er, für den Rosche. Un er kam dernach zum Chossid un war sich megajer (bekehrte sich), un war geheißen ein Ger Zedek (ein frommer Fremdling, Bekehrter). Un gab seinen Mammon als für Zdoke (Almosen) für die armen Juden.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 174-176.
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