Hunderteinundsiebzigste Geschichte

[176] geschah: Rabbi Jehude Chossid war wol achtzehn Jahre alt eh er ein Wort konnt lernen, denn er war ein großer Amhoorez (unwissend) un ein großer Lauchefez (Taugenichts), denn er tät nix anderes als mit der Armbrust un mit Pfeilbogen schießen. Einmal sagt sein Vater Rabbi Schmuel Chossid im Bethhamidrasch (Lehrhaus) die Haloche. Da waren die Bocherim (jungen Schüler) sehr zornig über den Chossid un sagten zu ihm: »Lieber Rabbi, all euere Owaus (Vorväter) sind große Talmidechachomim (Schriftgelehrte) gewesen, gleich euer Vater Rabbi Klaunimes un euer Herrli Rabbi Ephraim. Un ihr läßt euern Sohn mit dem Armbrust schießen alswie andere Gaslonim (Räuber).« Da sagt Rabbi Schmuel: »Ihr habt recht, ihr sollt sehen, ich will meinen Sohn anderst ziehn.« Da nun die Bocherim heim gingen, da ruft er seinen Sohn Jehude un sagt wider ihm: »Lieber Sohn, willst du nit Thauroh lernen? Denn ich muß mich deiner schämen.« Da sagt Jehude: »Mein lieber Vater, warum will ich nit lernen? Ich will gern lernen. Wenn du mit mir lernen willst als wie du mit den andern Bocherim auch lernst.« Da ging sein Vater, Rabbi Schmuel hin, un führt seinen Sohn Jehude in das Bethhamidrasch un setzt ihn neben sich. Un seinen Sohn Rabbi Awrohom setzt er auch neben sich auf die andere Seite. Da sagt Rabbi Schmuel einen Schem (Zaubernamen), daß das ganze Bethhamidrasch voller Licht war, daß sein Sohn Jehude nit Kauach (Kraft) hätt, daß er in das Licht konnt sehen un deckt sein Ponim (Gesicht) mit dem Mantel zu. Un fiel nieder auf die Erde un konnt nit über sich sehen. Da sagt Rabbi Schmuel wieder seinen Sohn Rabbi Awrohom: »Die Schooh (Stunde) is von Gott, dem Gesegneten geraten zu meinem Sohn Jehude. Ich weiß wol, daß du ein großer Lamden (Gelehrter) bist all deine Tage gewesen. Aber dein Bruder Jehude wird viel mehr lernen, un wird auch wissen was oben im Himmel geschieht. Un wird auch wissen, was auf der Erden soll geschehen, un wird keinerlei vor ihm verhohlen sein. Aber er wird kein so ein großer Boke (Sachverständiger) sein in der Thauroh als du dein Tag bist gewesen. Aber er wird viel mehr Sachen tun, als du dein Tag hast getan.« Un Rabbi Schmuel lernt mit ihm. Un alles, was er mit ihm lernt, das konnt er gleich außenwendig. Un da nun den andern Tag die Bocherim kamen un wollten die Haloche hören von Schmuel Chossid, da sagt Rabbi Schmuel die Haloche. Da fragt ihn sein Sohn Jehude viel Kasches (Fragen) mehr als die andern Bocherim alle fragten. Da verwundern sich die Bocherim alle gar sehr un sprachen: »Sieh, der hat all sein Tag nit gelernt un fragt mehr als wir alle frägen.« Un da nun die Haloche aus war, da ging Jehude stracks un holt sein Pfeil un Bogen un bracht sie seinem Vater. Da nahm sie Rabbi Schmuel[177] un zerbrach sie vor den Bocherim un sagt: »Mein lieber Sohn Jehude das is für dein Emunaus (Standhaftigkeit) gewesen mit schießen. Aber jetzunder sollst du mit der Thauroh dein Handwerk treiben.« Also lernt er fort un ward aus ihm der Herr Rabbi Jehude Chossid, daß ihr jetzunder noch viel Wunder von ihm werdet hören.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 176-178.
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