Hundertdreiundneunzigste Geschichte

[215] geschah an Rabbi Schimen hagodel (dem Großen). Der hat gewohnt in Mainz am Rhein. Nun, dieser Rabbi Schimen, der hat drei große Spiegels in seinem Haus hängen. Da hat er alles drinnen gesehen, was geschehen is, un was geschehen soll. Auch hat er gehabt zu Köpfen aus seinem Grab auf dem Friedhof einen Quellbrunnen heraus gehn. Der Rabbi Schimen is ein Godel gewesen. Un er hat einen Sohn, der heißt Elchonon, der war noch ein kleiner Jung. Nun, es geschah einmal, daß die Schabbes-Goje (Christin) (Aufwartefrau für Sabbath) wollt auf einen Schabbes die Stub einheizen, gleich wie der Seder (Gewohnheit) war. So nahm die Goje das Kind auf ihren Arm un ging mit ihm weg. Die Maid, die im Haus war gewesen, is nit viel fragen gewesen, denn sie hat[215] gemeint, die Goje wird das Kind wieder bringen. Un jeder war eben in der Schul gewesen. Also nahm die Goje das Kind un zug mit ihm weg un ließ das Kind schmadden (laufen). Da meint sie nun, sie hätt ein Korben (Opfer) gebracht, denn vor Zeiten haben sie gar viel auf das Schmadden gehalten. Da der Rabbi Schimen hagodel heim kam aus der Schulen, da is die Maid nit derheim gewesen, denn sie war nach der Goje gelaufen, aber sie hat die Goje nit gefunden. Also fand der Rabbi Schimen seine Maid nit un sein Kind auch nit. Urblizling kam die Maid zu gehn un schrie gar sehr. Der Rabbi Schimen fragt die Maid, warum sie also schreiet. Da sagt sie zu ihm: »Lieber Rabbi, Gott bewahre, die Schabbes-Goje hat das Kind weggetragen. Aber ich weiß nit wo sie mit ihm is hingekommen.« Also ließen sie das Kind überall suchen. Aber sie konnten es nirgenst finden. Das Kind war weg. Nun, Vater un Mutter trieben einen großen Jammer um ihr liebes Kind, gleich wol zu glauben steht. Der Rabbi Schimen fastet Tag un Nacht. Aber der Heilige, gelobt sei er, hat es vor ihm verhehlt, wo das Kind is hingekommen. Nun, das Kind kam so weit, daß es in den Galochim (Geistliche:.) ihre Hände kam, un sie ziehten das Kind auf, daß es ein großer Melamed (Lehrer) war geworden. Denn das Lew (Herz) war von Schimen hagodel gewesen. Also zug der Jung von einer Hochschul zu der andern bis er kam nach Rom un lernt gar ernstlich von allerlei Sprachen, daß er ein Kardinal zu Rom war un sein Nam ging so weit, daß man nit genug von ihm sagen konnt. Un hebt an, un war gar choschew (vornehm) un war gar hübsch. Sofdowor (Schließlich) es begab sich, daß der Apiphjaur (Papst) sturb, un der Jung von wegen seinem großen Charifes (Scharfsinn) un seinem wol Lernen in allerlei Sprachen, so is er zu einem Apiphjaur gemacht worden. Nun hat er wol gewußt, daß er ein Jud is gewesen, un war von Mainz Rabbi Schimen hagodel sein Sohn. Nun, es ging ihm so gar wol, daß er unter Gojim (Christen) blieb, gleich man wol gedenken kann, so ein großer choschewer (vornehmer) Mann zu sein. So gedacht er sich einmal, ich will sehen, daß ich meinen Vater von Mainz will herbringen nach Rom. Da schreibt er einen Brief nach Mainz an den Hegmon (Bischof) denn er is nun Apiphjaur gewesen, der alle Hegmonim unter sich hat, daß er sollt den Juden verbieten, den Schabbes zu halten und ein Kind jüdischen zu lassen, un eine Frau tauweln (ins Tauchbad) zu gehn. Da gedacht sich der Apiphjaur wol, daß nun sein Vater wird hergeschickt werden vor ihn, um solche Sachen wieder auszurichten. Gleich auch geschah. Da nun der Brief an den Hegmon von dem Apiphjaur kam, also ließ der Hegmon die Juden stracks die Gesere (Unglück) wissen. So wollten die Juden viel stiften bei dem Hegmon. Aber der Hegmon weist ihnen den Brief, der von dem Apiphjaur gekommen war. Darum kann er[216] ihnen nit helfen. Wenn sie wollen stiften, so müssen sie selbert nach Rom zu dem Apiphjaur ziehn. Wer war aber übler dran, als die armen Juden? Sie täten Tschuwe (Buße), Tefille (Gebet) un Zdoke (Almosen). Also waren sie zu Rat, daß sie wollten schicken Rabbi Schimen hagodel mit zwei Rabbonim hinein nach Rom, daß er bei dem Apiphajur möchte fürsprechen. Vielleicht wird ihnen der Heilige, gelobt sei er, ein Ness (Wunder) tun. Aber doch ließen sie die Kinder im Geheimen jüdischen, denn sie hatten vom Hegmon derweil ausgerichtet, aber im großen Sod (Geheimnis). Also hebten sie sich auf, un zugen nach Rom zu dem Apiphjaur. Wie sie nun da kamen, ließen sie sich ansagen bei Jehudim un hielten den Jehudim die Sache vor. Da sie es hörten, da verwunderten sie sich gar sehr, denn sie sagten, sie hätten bei Menschengedenken keinen besseren Apiphjaur gehabt für Jehudim, denn er könnt nit leben ohne Jehudim, un hätt allzeit Jehudim im Sod (Geheimen) bei sich un mußten auch Schachzabel mit ihm ziehn. Auch hätten sie nix von der Gesere (Unglück) gehört, denn wir können es nit glauben, daß die Gesere is von dem Apiphjaur ausgegangen, sondern der Hegmon müßt es selbert getan haben. So weist der Rabbi Schimen hagodel des Apiphjaur Brief un Chaussem (Siegel), daß es die Jehudim mußten glauben un hebten an, das muß eine versündte Sach bei euch in Deutschland sein. Un die Jehudim in Rom täten auch Tschuwe, Tefille un Zdoke (Buße, Gebet und Almosen). Un die Parnoßim (Gemeindeältesten) zu Rom gingen zu dem Kardinal, wo sie nun bekannt mit waren, un wollten viel stiften. Da sagt der Kardinal, der Brief is von seiner eigenen Hand an den Bischof von Mainz geschrieben worden, so daß wir nit viel können ausrichten. Dann verheißt er ihnen, das Beste zu tun, was ihm möglich sein wird, un heißt sie eine Suplikation zu machen, dann wollen sie machen, daß sie der Apiphjaur in die Hände bekommt. Dann wollen sie sehen das Beste derbei zu tun. Also machen die Jehudim eine Suplikation un gaben sie dem Apiphjaur. Sobald der Apiphjaur die Suplikation leinet, konnt er wol gedenken wie daß die Sach gestellt war. Un heißt die Jehudim selbert vor ihn kommen. Also kam der Rabbi Schimen hagodel vor den obersten Kardinal un zeigt die Jehudim bei dem Apiphjaur an, als da wären die Jehudim von Mainz, un wollten ihn selbert gern sehen un sprechen. Also gab er Bescheid, daß der Älteste unter ihnen zu ihm kommen sollt. Nun, der Rabbi Schimen hagodel war der Älteste unter ihnen, un is ein Mann gewesen, wie ein Bote von Gott. Un so bald als er hinein kam fiel er auf seine Knie. Da saß eben der Apiphjaur mit einem Kardinal un zieht Schachzabel. Wie er nun den Rabbi Schimen sah, da derschrak der Apiphjaur gar sehr un heißt ihn aufstehn un derweil sitzen bis er fertig wär mit dem Spiel. Denn er kennt gleich seinen Vater, wiewol daß der Vater ihn nit[217] kennt. Wie sie nun ausgespielt haben, fragt der Apiphjaur was sein Begehr wär. Der Godel sagt es ihm mit Weinen un Schreien un wollt wieder niederfallen vor dem Apiphjaur. Das wollt aber der Apiphjaur nit leiden un sprach: »Euer Anliegen hab ich nun wol gehört, denn es sind viel seltsame Briefe von Mainz gekommen, daß wir es euch haben müssen verbieten.« Der Apiphjaur hub mit dem Rabbi Schimen an zu reden ein Pilpul (Disputation), daß er den Rabbi Schimen hagodel, Gott bewahre, schier hätt besiegt, das ihn selbst Wunder nahm, daß ein solches Lew unter Gojim (Christen) sollt sein. Sie blieben wol einen halben Tag beieinander, daß der Apiphjaur sagt: »Mein lieber Gelernter, ich merk wol, daß du bist gar wol gelernt. Auch werden dich die Jehudim nit vergebens geschickt haben. Nun hab ich Jehudim alle Tag bei mir, die ziehen Schachzabel mit mir. Zieh du auch einmal Schachzabel mit mir. Dein Sach wird nit so bös werden. So war der Rabbi Schimen ein Meister auf Schachzabel ziehn, daß man sein gleichen nit fand in der ganzen Welt. Noch mattet ihn der Apiphjaur. Das nahm den Godel groß Wunder. Un also hebten sie wieder an von der Emune (Glauben) zu reden, daß der Rabbi Schimen groß Charifes (Scharfsinn) von ihm hört, das ihn groß Wunder nahm.« Endlich, da er nun lang geklagt hat un sein Begehr vor ihn getan hat, so heißt er alle die Kardinäle von ihm hinweg gehn. Un fiel ihm der Apiphjaur um den Hals mit tränedigen Augen. Un sagt: »Lieber alter Vater, kennt ihr mich nit?« Der Vater antwortet: »Woher wollt ich euch, euere königliche Gnaden kennen?« Der Apiphjaur sagt: »Lieber alter Vater, hatt ihr nit einmal einen Sohn verloren?« Da der Godel das hört, da derschrak er gar sehr un sagt, ja. Da sagt der Apiphjaur: »Ich bin dein Sohn Elchonon, der dir verloren is worden durch die Schabbes-Goje. Daß ich nun soll sagen, was die Awere (Sünde) is, oder wie es is, das kann ich nit wissen. Ich denk der, dessen Name gelobt sei, hat es so haben wollen. Un ich hab darum das Gebot lassen ausgehn, derwartend, daß du selbst sollst zu mir kommen, wie auch geschehen is. Denn ich will wieder auskommen. Derhalben will ich die Gesere (Unglück) wieder mewatel sein (zurück ziehen).« Un gab ihm wieder gute Briefe mit zum Bischof gen Mainz, daß das Verhängnis wieder aufgehoben war. Da fragt ihn der Sohn: »Lieber Vater, kannst du mir keinen Rat dazu geben, wie ich wieder eine Sühne kann haben.« Da sagt Rabbi Schimen: »Mein lieber Sohn, sorg' nit, du bist ein Unserer, denn du bist noch ein Kind gewesen, da du bist von mir weg gekommen.« Da sprach er: »Mein lieber Vater, dieweil ich bin so lang unter Gojim (Christen) gewesen un ich hab es gewußt, daß ich ein Jehude bin gewesen, un die guten Tage, gleich wie du siehst, die haben mir derbei geholfen, daß ich bin nit ausgekommen. Kann ich denn Kapore (Sühne) haben?« Ein Teil[218] sagen, der Rabbi Schimen hagodel hat eppes an dem Schachzabel gemerkt, daß er wär mi Sera (von Herkunft) Jehudim. Da sagt der Sohn wieder zum Vater: »Zieh heim (im Namen des Gottes Jisroel) un bring die Briefe wieder an deinen Hegmon, un sag nix weiter von mir, ich will bald bei dir sein zu Mainz. Aber ich will ein Andenken hinter mir lassen eh ich hinweg zieh, das gut für Jehudim soll sein.« Also kam der Rabbi Schimen wieder zu den Jehudim un weist ihnen den Brief, daß die Cesere, mit Gottes Hilfe, aufgehoben is. Da waren sie sehr froh. Also zieht Rabbi Schimen mit seinen Chawerim (Gesellen) wieder heim un brachte den Brief an den Hegmon, daß die Gesere (Verhängnis) wieder aufgehoben sei, gelobt sei Gott, un waren alle fröhlich. Un Rabbi Schimen sagt seinem Weib die Geschichte, wie es ihm gegangen war. Un wie ihr Sohn selbert Apiphjaur wär. Da sie das hört, da trieb sie einen großen Jammer. Aber Rabbi Schimen sagt zu ihr: »Gräme dich nit, wir werden unseren Sohn bald bei uns haben.« Also macht der Apiphjaur ein Sefer (Buch) wider die Emune (Glauben) un schließt es in ein Gewölb un macht (bestimmt), daß wer Apiphjaur sollt werden, der muß drinnen leinen. Es is nun viel dervon zu schreiben, was in dem selbigen Sefer (Buch) steht. Un nit lang dernach hebt er sich auf mit großem Mammon un zieht nach Mainz un war wieder ein choschewer (vornehmer) Jehudi, un zu Rom hat man nit gewußt wo er is hin gekommen. Un auf die Geschichte hat Rabbi Schimen hagodel gemacht zum andern Tag ein Jauzer von Roschhaschone (Einschaltung im Morgengebet von Neujahr). Derhalben sollt ihr nit meinen, daß es schlechte Sachen sind, sondern es is gewiß geschehen, wie es da steht. Ein Teil sagen, der Rabbi Schimen hagodel hat den Sohn gekannt am Schachzabel, denn er hat ihm einen Zug gelernt, da er noch gar klein war. Un denselbigen Zug hat er nun mit dem Vater getan. Da hat er gemerkt, daß das sein Sohn is gewesen. Der Heilige, gelobt sei er, soll uns unsere Sünden verzeihn durch Rabbi Schimen sein Sechus (Verdienst). Omen. Seloh.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 215-219.
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