Zweihundertneunzehnte Geschichte

[274] geschah: Einer hat geheißen in der heiligen Khille (Gemeinde) Worms Rabbi Bunim, der pflegt mit den Toten umzugehn. Also begab es sich, daß ein alter Mann kam zu sterben. Nun, der Rabbi Bunim ging mit ihm, gleich wie sein Seder (Gewohnheit) war. Den andern Tag ging Rabbi Bunim in die Schul (Bethaus). Un da er vor die Schul kam, so stund da einer in Tachrichim (Totenkleidern) un hat einen Kranz auf seinem Haupt. Da fercht sich Rabbi Bunim vor ihm, denn er meint, er wär ein Sched (böser Geist) un wollt wieder zurück laufen. Da ruft derselbe in Tachrichim: »Fercht dich nit, un komm her. Kennst du mich nit?« Da sprach Rabbi Bunim: »Bist du nit der, den ich gestern hab zu Grabe getan?« Da sprach er: »Ja, ich bin es.« Da frägt ihn Rabbi Bunim: »Warum kommst du her, oder wie geht es dir auf Jener Welt?« Da sprach er: »Es geht mir wol, un ich bin gar choschew (fein) in Gan Eden.« Da sprach Rabbi Bunim: »Man hat dich doch für einen schlechten Jehudi auf dieser Welt gehalten. Sag mir, was für eine Mizwe (Guttat) hast du getan, daß man dich so ehrlich hält?« Da sagt der Tote wider: »Das will ich dir sagen. Derweil, daß ich alle morgen früh bin aufgestanden un hab mit Kewone (Andacht) mein Tefille (Gebet) getan un die Broches (Segensprüche) mit ganzem Herzen gesagt habe, derhalben sag ich in Gan Eden jetztundert auch Broches un man hält mich gar wol. Un wenn du es nit glauben willst, so will ich dir ein Simon (Zeichen) sagen, daß du es glauben mußt. Denn gestern, da du mir hast angetan meine Tachrichim, so hast du mir einen Ärmel zurissen.« Da sprach Rabbi Bunim: »Was bedeutet der Kranz auf deinem Haupt?« Da sprach der Tote: »Daß mir die bösen Geister von der Welt nix können tan. Denn es sind gute Kräuter aus dem Gan Eden.« Also macht ihm Rabbi Bunim seinen Ärmel wieder. Denn der Tote sagt, er muß sich sonst schämen, daß andere Tote ganze Kleider an haben, un er hat zurissene Kleider an. Also verschwand der Tote wieder. Derhalben soll ein jeglicher sein Tefille mit Kewone tun, so geht es ihm gar wol auf Jener Welt. Un soll wol Achtung geben, daß man an einem Toten nichts vergißt.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 274-275.
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