Zweihundertvierundvierzigste Geschichte

[334] geschah an einem großen mächtigen König, der hatte viel köstliche Räte bei sich un viel Herren un Grafen, wie nun der Seder (Sitte) is, daß ein König viel köstliche Räte hat. Aber all die Herren, die er bei sich hat, die hielten ihn gar gering un gaben ihm nit so viel Kowed (Ehre), wie man einen König soll in Ehren halten. Da hat der König bei sich aufgezogen einen jungen Sperber. Der war gar wol abgerichtet auf das Jagen, daß er ihm gar viele Vögel un Hasen konnt fangen, wie man noch jetzunder findet Sperber, die darauf abgerichtet sind, un sind auch viel wert. Un man hat sie gar lieb. Nun, der Sperber kam nit von dem König, denn er eßt Brot von dem König seiner Hand. Un in dem König seinen Schoß schluft der Sperber, so gar lieb hat der König den Vogel.[334] Nun, am dritten Jahr von seine Malches (Königreich) macht der König eine Mahlzeit, an dem Tag, daß er die Königin zu einem Weib hat genommen. Un der König derfreuet all seine Herren Ritter, Grafen un all seine Wagenführer. Un wie sie nun alle gar fröhlich waren un hielten mit ihn in der Zech, da ließ er sich den Vogel auch bringen, daß er sich dermit berühmen wollt, wie der Vogel so viel wert wär. Wie nun der Vogel eine Weile da saß, so sah er einen Adler fliegen, der wollt seinen Jungen Essen bringen. Un ein Adler is ein König unter den Vögeln. Da hebt der Sperber an, un war brauges (böse) un fliegt geschwind auf den Adler zu. Un fängt den Adler un werft ihn auf die Erden unter des Königs Tisch. Un der Sperber wiederkehrt auf des Königs Schoß. Denn der Vogel gedacht: ich bin jetzunder gar wol daran, derweil ich einen solchen Vogel gefangen hab. Aber der Sperber wußt nit, daß er unrecht getan hat, dieweil er den König unter den Vögeln umgebracht hat. Wie nun der Vogel auf des Königs Schoß wieder saß, so ging der König hin un würgt dem Vogel den Hals ab, daß er sturb. Wie das nun die Fürsten des Reiches sahen, daß der König den köstlichen Vogel hat um das Leben gebracht, da verwundert sich jedermann gar sehr, aber es redet niemand eppes derwider. Aber es tät den Leuten gar bang um den Vogel. Nun, der König sah wol, daß seine Räte alle zornig waren un redeten doch nix. Da sagt der König: »Ihr lieben Leut, laßt euch nix verwundern, daß ich den Vogel hab getötet. Un laßt es euch nit übel gefallen in eueren Augen. Denn das ist das Recht von der Thauroh, wenn einer Hand anlegt an einem König, so is er todeswürdig. Un der Adler is ein König unter den Vögeln. Un der Sperber hat ihn getötet, so is es auch billig, daß er auch soll um das Leben kommen. Un wie das Recht is, so is es auch das Recht von allen Menschen, der einen König verschmäht.« Wie das die Leute sahen, da verwunderten sie sich gar sehr über seine Chochine (Weisheit). Denn sie wußten wol, daß er's ihrethalben getan hat. Un hebten an un furchten sich sehr vor dem König.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 334-335.
Lizenz:
Kategorien: