Siebenunddreißigste Geschichte

[32] geschah: Der Rabbi Chanine, der hat viel Ziegen. Da kamen die Leute un sagten wider Rabbi Chanine: »Euere Ziegen, die tun uns viel Schaden im Feld.« Da sagt Rabbi Chanine wider sie: »Tun sie euch Schaden, da geb Gott, daß sie die Bären essen. Tut ihr ihnen aber Unrecht, so geb Gott, daß eine jegliche Zieg zu Abend einen Bär mitbringt an ihren Hörnern zu tragen.« Zum Abend da bracht eine jegliche Zieg einen Bär mit sich zu tragen an seine Hörner. Da hat man wol gesehen, daß man seinen Ziegen Unrecht getan hat, un daß sie den Leuten keinen Schaden getan haben. Da fragt die Gemore: Woher kamen Rabbi Chanine die Ziegen, denn er war doch so ein armer Mann, daß er gar niks hat, wie ihr da oben gelesen habt? Da sprach Rabbi Pinches: »Ich will es euch sagen. Es geschah auf eine Zeit, eine Maasse (Geschichte) an einem Träger, der trug einen ganzen Korb mit Hühnern vor Rabbi Chanine sein Haus. Un derselbige Mann der ließ zwei Hühner stehn bei der Tür von Rabbi Chanine, die er hatt vergessen. Und Rabbi Chanine sein Weib, die hat die Hühner aufgehoben. So hüben die Hühner an Eier zu legen.« Da sagt Rabbi Chanine zu seinem Weib: »Sei gehütet un heb die Eier auf, die die Hühner[32] legen un vertu keines dervon. Denn der Mann möcht wieder kommen, dem die Hühner zukommen un möcht sie wieder begehren, so können wir die Eier mit die Hühner wieder geben.« So sammelt die gute Frau viel Eier un die Hühner brüten die Eier aus un kriegen viel junge Hühner. Un weiter die selbigen Hühner un die selbigen jungen Hühner, die er von die Hühner bekommt, die der Hühnerträger vergessen hat. Die verkauften sie um Geld un um dasselbige kauft er Ziegen darfür. Auf eine Zeit, lang darnach, da ging der Hühnerträger an Rabbi Chanine sein Haus vorbei. Da sagt er wider seinen Gesellen, den er bei sich hat: »Ich bin einmal gegangen mit Hühner vor die Tür un ich hab lassen zwei Hühner stehn vor die dasige Tür, die ich hab vergessen mitzunehmen.« Un wie der Hühnerträger das sagt, da hat das Rabbi Chanine gehört un ruft den Hühnerträger in seine Stub, und sprach zu ihm: »Kannst du ein Simon (Zeichen) an deinen Hühnern sagen, die du hast vergessen?« Da sprach der Hühnerträger: »Ja.« Un gab Simonim (Zeichen) an die Hühner. Da gab ihm Rabbi Chanine die Ziegen, die kamen von den Hühnern her. Un das waren die Ziegen, die die Bären mit heim vom Feld brachten.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 32-33.
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