Zehntes Capitel.
Von dem Gelöbniß der Treue.

[16] Es war einst ein König Vespasianus, der lange ohne Kinder regierte. Indessen nahm er auf den Rath weiser Männer eine gewisse schöne Jungfrau aus fernen Welttheilen zur Frau und blieb mit ihr lange in ihrem fremden Vaterlande und zeugte mit ihr Kinder. Nach diesem wollte er in sein Reich zurückkehren, konnte aber von ihr keine Erlaubniß dazu erlangen, sondern immerfort sprach sie: Wenn Du von mir gehst, werde ich mich selbst umbringen. Als das der Kaiser gehört hatte, so ließ er zwei sehr schöne Ringe machen und auf die Edelsteine derselben Bilder eingraben, von denen eins die Erinnerung, das andere die Vergessenheit darstellte. Und da er nun diese in ganz gleiche Ringe eingezogen hatte, so gab er den einen, den der Vergessenheit, seiner Frau, den andern trug er selbst, auf daß sie sich wie durch gleiche Liebe, so auch durch gleiche Ringe schmückten. Als aber die Frau den Ring bekommen hatte, begann sie alsbald die Liebe zu ihrem Manne zu vergessen. Der Kaiser,[16] der dieß bemerkte, begab sich voll Freude in sein Reich, kehrte nicht wieder zu seiner Frau zurück und endigte so sein Leben im Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 16-17.
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