Hundertundsiebenundzwanzigstes Capitel.
Von der Gerechtigkeit und Billigkeit Christi, des weisesten Richters, in seinen verborgenen Gerichten.

[248] Es lebte einst ein bösgesinnter Raubritter, der einen treuen und in Allem sorgsamen Diener hatte. Wie er aber eines Tages mit eben diesem Diener durch einen Wald auf eine Messe zog, begab es sich, daß der Ritter dreißig Mark Silbers, ohne daß es sein Diener bemerkte, in diesem Walde verlor. Da er nun das Geld nicht fand, so fragte er seinen Diener, ob er es nicht gefunden habe: der aber leugnete es sogleich und fing an zu schwören, er wisse nichts davon, wie er denn auch die Wahrheit sagte. Da sich nun aber das Geld doch nicht wieder fand, so hieb er seinem Diener einen Fuß ab und ließ ihn liegen, und begab sich nach Hause. Nun wohnte aber nahe bei dieser Straße ein Einsiedler: wie der das Geschrei und Weinen des Dieners hörte,[248] lief er gleich zu ihm, hörte seine Beichte, und da er erkannte, daß er unschuldig sey, so sorgte er für ihn barmherzig, indem er ihn auf seinen Schultern in sein Hospitz trug. Hierauf begab er sich in sein Betstübchen und warf dem Herrn vor, wie er kein gerechter Richter sey, daß er zugelassen habe, wie ein unschuldiger Mann um sein Bein käme. Als er aber ziemlich lange gebetet und geweint und dem Herrn beinahe ein ungerechtes Urtheil zur Last gelegt hatte, kam ein Engel zu ihm und sprach: hast Du nicht in den Psalmen gelesen, Gott ist ein gerechter Richter, stark und geduldig? Jener aber entgegnete: das hab ich so und so oft gelesen und von ganzem Herzen geglaubt, allein ich habe mich hierin geirrt, oder jener Unglückliche, der seinen Fuß eingebüßt hat, hat mich unter dem Mantel der Beichte hintergangen. Da antwortete der Engel: rede nicht von Unbilligkeit wider den Herrn, denn Wahrheit ist auf allen seinen Wegen und Billigkeit in allen seinen Gerichten. Erinnere Dich, was Du öfters gelesen hast: die Gerichte des Herrn sind unergründlich. Wisse also, daß dieser Mensch seinen Fuß für eine alte Schuld verloren hat, denn vor langer Zeit hat er mit demselben Beine hinterlistig seine Mutter aus einem Wagen gestoßen, und für diese That nie eine gebührende Buße gethan. Jener Ritter aber wollte ein Streitroß kaufen, um zum Schaden seiner Seele noch mehr Schätze zusammen zu bringen, und darum hat er durch das gerechte Gericht Gottes sein Geld verloren. Ein getreuer, aber armer Mann, der mit seiner Frau und Kindern täglich zu Gott flehte, er möchte ihm in seiner Noth beistehen, hat das Geld gefunden und es seinem Beichtiger eingehändigt, aber Niemanden auftreiben können, dem es gehörte: also[249] hat er dem Armen einen Theil dieses Geldes zukommen lassen und um Gottes Willen den Rest an andere Arme gespendet. Lege also Deinem Munde einen Zaum an, damit Du fürder nicht mehr Gott anschuldigst, wie Du es gethan hast, denn er ist ein wahrhafter, starker und geduldiger Richter.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 248-250.
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