Siebenundfünfzigstes Capitel.
Von des Lebens Vervollkommnung.

[83] Titus herrschte im Römischen Reiche und gab ein Gesetz, daß der Geburtstag seines Erstgeborenen von Allen heilig gehalten werden sollte und daß, wer diesen Ehrentag seines Sohnes durch eine niedrige Arbeit beflecken würde, des Todes sterben müßte. Als er dieses Gesetz hatte bekannt machen lassen, rief er seinen Meister Virgilius zu sich und sprach: mein Lieber, ich habe zwar ein solches Gesetz gegeben, allein demohngeachtet können doch oft im Geheim Vergehen begangen werden, zu deren Kenntniß ich nicht gelangen kann. Wir bitten Dich also, daß Du vermöge Deiner Weisheit ein Mittel findest, durch welches ich diejenigen erkennen kann, welche gegen das Gesetz fehlen. Jener aber sprach: Herr, Dein Wille geschehe. Alsbald ließ Virgilius mitten in der Stadt durch seine Zauberkünste eine Bildsäule entstehen, welche dem Kaiser alle an jenem Tage heimlich begangenen Sünden sehen ließ, und also wurden auf die Anklage dieses Standbildes unendlich viele Menschen verurtheilt. Nun gab es aber in der Stadt einen gewissen Handwerksmann, Namens Focus, der an jenem Tage[83] wie an den übrigen arbeitete. Als er aber einstmals auf sei nem Lager hingestreckt lag, dachte er bei sich darüber nach, wie so viele Menschen durch die Anklage jener Bildsäule ums Leben kämen. Frühe nun stand er auf und begab sich zur Bildsäule und sprach also zu ihr: O Du Bildsäule Du, viele Menschen werden auf Deine Anklage hingerichtet! Ich gelobe aber meinem Gotte daß, so Du mich verklagen wirst, ich Dein Haupt zerbrechen werde. Als er so gesprochen hatte, machte er sich wieder nach seinem Hause auf den Weg. In der ersten Stunde aber schickte der Kaiser nach seiner Gewohnheit seine Boten zu der Bildsäule, um sie zu befragen, ob Jemand gegen das Gesetz gethan hätte. Wie die aber zu der Bildsäule gekommen waren und ihr den Willen des Kaisers hinterbracht hatten, sprach diese: Ihr lieben Leute, hebet Euere Augen auf und sehet, was auf meiner Stirne geschrieben steht. Wie jene aber ihre Augen in die Höhe erhoben hatten, erblickten sie auf ihrer Stirne ganz deutlich folgende drei Sätze: »die Zeiten ändern sich, die Menschen werden immer schlimmer, wer die Wahrheit sagen wird, wird seinen Kopf gebrochen sehen«. Gehet hin und meldet Euerem Herrn, was Ihr gesehn und gelesen habt. Also machten sich die Boten auf und hinterbrachten ihrem Herrn Alles. Als das der Kaiser gehört hatte, gebot er seinen Soldaten sich zu waffnen und nach der Bildsäule zu gehen, und so gegen sein Geheiß irgend Jemand etwas wider dieselbe vornähme, sollten sie ihn gefesselt an Händen und Füßen vor ihn führen. Die Soldaten begaben sich also zu jener Bildsäule und sprachen zu ihr: es gefällt dem Kaiser also, daß Du ihm diejenigen anzeigst, welche gegen das Gesetz gethan haben und so auch wer die waren, welche[84] Dich bedrohten. Da sprach die Bildsäule: holet den Schmied Focus, denn dieser sündigt nicht allein alle Tage wider das Gesetz, sondern hat gegen mich auch Drohungen ausgestoßen. Da ergriffen ihn jene und führten ihn vor den Kaiser. Da sprach dieser zu ihm: mein Lieber, was ist es, was ich von Dir höre? warum verletzest Du denn das gegebene Gesetz? Jener aber versetzte: Herr, ich kann das Gebot nicht halten, denn ich brauche jeden Tag acht Denare und ohne zu arbeiten kann ich selbige nicht verdienen. Da versetzte der Kaiser: und weshalb acht Denare? Der aber sprach: ich bin gehalten jeden Tag im Jahre zwei Denare zu bezahlen, die ich in meiner Jugend geliehen habe: zwei verleihe ich, zwei verliere ich und zwei gebe ich aus. Da sagte der Kaiser: Du mußt Dich hierüber deutlicher gegen mich aussprechen. Darauf versetzte der Schmied: zwei Denare muß ich jeden Tag meinem Vater auszahlen, weil derselbe, da ich noch ein kleiner Knabe war, jeden Tag zwei Denare für mich ausgegeben hat. Nun befindet sich mein Vater jetzt in Dürftigkeit, also befiehlt mir meine Vernunft, daß ich ihm alle Tage zwei Denare gebe. Zwei andere Denare leihe ich meinem Sohne, der jetzt noch in der Lehre ist, auf daß, wenn es mir geschieht, daß ich in Armuth gerathe er mir einst jene zwei Denare wiedergeben kann, wie ich es jetzt mit meinem Vater mache. Zwei andere Denare bezahle ich jeden Tag jür meine Frau. Da diese mir aber entgegen, eigenwillig und hinterlistig ist, so verliere ich aus diesen drei Gründen Alles, was ich ihr gebe. Zwei andere Denare endlich gebe ich für mich selbst in Speisen und Getränken aus. Leichter kann ich also auf gute Weise durchaus nicht durchkommen und eben sowenig diese Denare ohne[85] beständige Anstrengung erhalten. Ihr habt jetzt meinen Grund gehört, fället also ein gerechtes Urtheil. Da sagte der Kaiser: Mein Lieber, Du hast Dich gut verantwortet, gehe hin und arbeite treulich nach Deiner Weise. Nachher starb aber der Kaiser schnell und der Schmied Focus wurde von Allen wegen seiner Klugheit zum Kaiser erwählt und er verwaltete auch sein Reich auf ganz verständige Weise, als er aber gestorben war, so wurde auch sein Bild mit unter den andern Kaisern abgezeichnet, über seinen Kopf aber seine acht Denare.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 83-86.
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