Vierundsechzigstes Capitel.
Von des Herrn Menschwerdung.

[106] Einst war ein gewisser König, der drei vorzügliche Eigenschaften besaß. Erstlich war er tapferer als alle andere Menschen, zweitens weiser und drittens schöner. Der lebte lange ohne Frau, bis endlich seine Freunde zu ihm kamen und sagten: Herr, es thut gut ein Weib zu nehmen und Kinder zu zeugen, auch ist es nicht löblich ohne Frau zu leben. Jener aber antwortete: Ihr Lieben, es ist Euch bekannt, daß ich reich und mächtig genug bin, also keiner Schätze bedarf; gehet also hin zu allen Reichen und Schlössern und sucht mir eine schöne und kluge Jungfrau, und so ihr dieses Beides finden werdet, will ich sie, mag sie auch noch so arm seyn, zur Frau nehmen. Da zogen sie denn durch alle Länder und alle Schlösser und fanden endlich eine gar schöne und weise Jungfrau aus königlichem Geblüt und verkündeten ihre herrlichen[106] Eigenschaften ihrem Könige. Der wollte nun ihre Weisheit kennen lernen, berief also einen Herold zu sich und sprach zu ihm: Mein Lieber, hier hast Du ein Stück Leinwand, das in seiner Länge und Breite nur drei Zoll beträgt: gehe jetzt zu dem Mädchen, grüße sie von mir und gieb ihr dieses Stück Leinwand, daß sie mir daraus nach ihrer Weisheit ein Hemde mache, das für meinen Körper lang und breit genug ist: wenn sie das gemacht hat, soll sie meine Frau werden. Der Bote machte sich also zu dem Mädchen auf den Weg, brachte ihr den Gruß seines Königs und sprach zu ihr: hier ist ein leinenes Tuch, nur drei Zoll lang und breit: wenn Du aus diesem ein seinem Leibe passendes Hemde verfertigen kannst, wird er Dich zur Frau nehmen. Sie aber antwortete: es ist unmöglich ein Hemde aus einem Stück Leinwand zu fertigen, welches nur drei Zoll in der Länge und Breite hat; indessen mag er mir ein Gefäß senden, in welchem ich arbeiten kann und ich verspreche ihm ein Hemde, das lang genug seyn soll. Hierauf kehrte der Bote zurück und hinterbrachte dem König die Antwort des Mädchens. Alsobald sendete ihr der König das verlangte kostbare Gefäß. Sie aber fertigte aus einem so kleinen Stoffe in diesem Gefäße ein Hemd, das völlig für seinen Körper ausreichte. Jener aber nahm sie, wie er das sah, zur Frau.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 106-107.
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