Sechsundsiebenzigstes Capitel.
Von der Eintracht.

[131] Es begab sich einstens in einer Stadt, daß darin zwei treffliche Aerzte lebten, in jeglicher Wissenschaft der Heilkunst wohl unterrichtet, welche alle, die zu ihnen kamen, von jeglicher Krankheit heilten, sodaß das Volk durchaus nicht wußte, welcher von ihnen der bessere sey. Nun erhob sich aber mittlerweile zwischen ihnen selbst ein Streit, welcher von ihnen größer und vollkommener sey. Da sprach einer zum andern: mein Lieber, nicht mögen zwischen uns Zwietracht, Neid oder Streit darüber seyn, wer von uns der vollkommnere ist, sondern wir wollen eine Sache unternehmen, und wer von uns dabei einen Fehler macht, der möge der Diener des andern seyn. Darauf sprach der andere: sage mir, was ist denn das? Und jener sprach: ich will Deine zwei Augen, ohne daß es Dir weh thut, aus Deinem Kopfe nehmen und auf Deinen Tisch legen: und so es Dir beliebt,[131] werde ich sie, ohne Dich zu verletzen, wieder in denselben einsetzen. Wenn Du aber an mir in Allem dasselbe thust, dann sind wir Beide einander gleich und ein Jeder von uns möge den Andern wie seinen Bruder ernähren. So aber Jemand hierbei einen Fehler macht, der soll des Andern Diener seyn. Jener aber entgegnete: das ist eine herrliche Probe und gefällt mir in Allem sehr wohl. Der aber, welcher diese Untersuchung vorgeschlagen hatte, nahm seine Instrumente und bestrich mit einer edlen Salbe die äußern und innern Theile unter den Augen des Andern, zog dann mit seinem Instrumente beide Augen seines Gesellen heraus und legte sie auf den Tisch. Hierauf sprach er zu seinem Gesellen: mein Lieber, wie befindest Du Dich jetzt? Und jener entgegnete: Eins weiß ich, daß ich nichts sehe und keine Augen mehr habe, aber keine Verletzung empfinde. Indessen wünschte ich wohl, daß Du mir meine Augen, wie Du versprochen hast, wieder einsetztest. Und jener entgegnete: das will ich sehr gerne thun. Hierauf nahm er seine Salbe, bestrich wie früher die innern und äußern Theile der Augen und setzte selbige wieder ein. Und hierauf sagte er: mein Lieber, wie geht es denn jetzt? Und jener antwortete: sehr gut, denn ich habe beim Ausnehmen derselben keine Verletzung gefühlt. Darauf sprach jener: Nun ist nur noch übrig, daß Du mir denselben Dienst erweisest. Der andere aber versetzte: ich bin bereit. Er nahm hierauf seine Instrumente und Salben und bestrich damit, wie jener es gethan hatte, die innern und äußern Theile der Augen, nahm dieselben darauf heraus und legte sie auf den Tisch und sprach: mein Lieber, was meinst Du dazu? Und jener antwortete: es kommt mir so vor, als hätte ich meine Augen verloren und keinen Schmerz empfunden, indessen[132] möchte ich meine Augen gern wiederhaben. Wie nun jener seine Instrumente zurecht machte, um die Augen wiedereinzusetzen, war das Fenster des Gemachs geöffnet worden und ein Rabe hereingeflogen, der, wie er die Augen auf dem Tische sah, plötzlich eins raubte und damit davonflog. Wie das der Arzt gewahr wurde, war er gar traurig und sprach bei sich: wenn ich meinem Gesellen seine Augen nicht wiederschaffen kann, muß ich sein Knecht sein. Er sah sich also um und erblickte von weitem eine Ziege, gleich nahm er ihr ein Auge heraus und setzte es jenem an der Stelle des geraubten ein. Als er das gethan hatte, sprach er zu seinem Gesellen: mein Lieber, wie befindest Du Dich nunmehro? Der aber sprach: weder bei dem Herausziehen noch bei dem Wiedereinsetzen habe ich irgend eine Verletzung gefühlt, eins von meinen Augen aber schaut immer aufwärts nach den Bäumen. Und jener entgegnete: darum, daß ich ein ebenso großes Kunststück an Dir gemacht habe, wie Du an mir, sind wir Beide einander gleich und es sey fürder kein Streit mehr zwischen uns. Und also lebten Beide nachher ohne Zwietracht mit einander.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 131-133.
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