Hundertundeinundsechzigstes Capitel.
Wie man Gott allezeit für seine Wohlthaten dankbar seyn muß.

[73] In dem Königreiche Engelland liegt ein kleiner Berg in einer Waldschlucht, welcher sich in der Gestalt eines Menschen nach seinem Gipfel erhebt. Diesen pflegten nun die Ritter und Jäger zu besteigen, wenn sie von Hitze oder Durst erschöpft ein Mittel gegen die sie drängende Noth suchten, allein einstmals brachten es der Ort und die Umstände so mit sich, daß nur ein einzelner Mann, der von seinen Gesellen verlassen war, den Berg bestieg. Wie der nun allein für sich, als wenn er mit einem Andern spräche, sagte: ich habe rechten Durst, siehe, da stand gleich, ohne daß er es hätte vermuthen können, ein Mundschenk an seine Seite, der prächtig gekleidet war und eine heitere Miene zeigte und in seiner ausgestreckten Hand ein großes mit Gold und Edelsteinen verziertes Trinkhorn hielt, wie es heut zu Tage noch manche Leute anstatt eines Bechers zu brauchen pflegen, welches er ihm, angefüllt mit einem Göttertrank von unbekanntem, aber äußerst süßem Geschmack, anbot; worauf, als er daraus getrunken hatte, die ganze Hitze seines warm gewordenen Leibes und die Müdigkeit wegging, so daß es ihm vorkam, als habe er keine Arbeit erduldet, sondern müsse jetzt erst sich solcher unterziehen. Wie Jener aber den Trank genommen hatte, da reichte ihm der Diener auch ein ganz reines Leinwandtuch, um sich seinen Mund abzutrocknen, und wie er seinen Dienst erfüllt hatte, verschwand er, und wartete weder auf Lohn für seine Dienstleistung, noch auf weitere[74] Unterredung oder Nachfrage. Dieses that Jener aber seit langen Jahren bis in's graue Alterthum hinauf, und bei den Alten war es eine bekannte und alltägliche Sache, bis endlich ein gewisser Ritter auf der Jagd an diesen Ort kam, und als er einen Trunk verlangte und erhalten hatte, das Horn nicht, wie es der Sitte und Artigkeit gemäß war, dem Mundschenken wieder zurückgab, sondern es zu seinem eigenen Gebrauche an sich behielt. Als aber sein Herr den Hergang der Sache erfuhr, verurtheilte er den Räuber zum Tode und schenkte das Horn dem englischen Könige Heinrich dem ältern, auf daß man von ihm nicht glauben möchte, wie er ein so großes Vergehen gut geheißen habe.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 73-75.
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