LVII.

[94] [Rand: Alaim.] Ein ähnlicher Zufall begegnete demselben Chalifen mit einer andern Sklavin, die er zu verschiedenen malen zum Liebesgenuß aufgefordert, immer aber eine abschlägige Antwort erhalten hatte. Eines Nachts fand er sie in einem Gange des Pallastes mit entblößtem Busen und fliegendem Haare. Da sie dem Chalifen keine Gewalt entgegensetzen konnte, so nahm sie zu schmeichelnden Worten ihre Zuflucht, und bat, er möchte sie jetzt, wo sie des Schlafes und der Ruhe so sehr bedürfe, gehen lassen, und sich nur bis an den Morgen gedulden. Harun, der nichts erzwingen wollte, ließ sie ziehen, sandte aber sogleich mit grauendem Morgen nach ihr, um die Erfüllung des nächtlichen Versprechens abzufordern. Fürst der Rechtgläubigen, sagte sie, kennst du denn mit aller deiner Belesenheit das arabische Sprichwort nicht: der Tag löscht die Worte der Nacht aus. Harun mußte sich's gefallen lassen, mit trocknen Lippen abzuziehen. Er entließ die Sklavin, und rief die drey eben vor der Thür stehenden Hofdichter: Ebunuwas, Ebumosab, und Er-rakaschi herein, um die Langeweile[94] zu vertreiben. Diese erzählten auf die obige Art dieselbe Geschichte, die sie schon durch ihre geheime Kundschafter im Hareme erfahren hatten. Der Chalife belohnte sie reichlich mit Gold und Ehrenkleidern.

Quelle:
Hammer-Purgstall, Joseph Freiherr von: Rosenöl. Stuttgart/Tübingen: Cotta, 1813, S. 94-95.
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