Zur Einführung.

[3] In den acht Kapiteln dieses Bandes ist der Versuch gemacht, Wanderstoffe aus dem Gebiet der Erzählungen über Tiere in ihrer Entwicklung darzustellen und die Wege ihrer Verbreitung zu erforschen. Dem Leser, der Untersuchungen dieser Art mehr oder weniger fernsteht, mag es vielleicht nach beendeter Lektüre scheinen, als sei diese Aufgabe im wesentlichen gelöst, denn es ist gelungen, so manchen Stoff bis auf alte indische Vorbilder oder auf Äsops reichen Fabelschatz zurückzuführen. Den Forscher jedoch, der die letzten Fragen nach dem Ursprung und Werden dieser Tiergeschichten beantwortet sehen will, werden die hier gewonnenen Ergebnisse nicht vollkommen befriedigen können. Nur einen winzigen Zeitraum der gesamten Entwicklung vermögen unsere Augen zu überfliegen, dahinter liegt ein Dunkel, das wir heute mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln noch nicht aufzuhellen vermögen. Diese Erkenntnis darf jedoch kein Grund sein, die Waffen nun entmutigt zu strecken. Gerade die bisher erschienenen Bände der Natursagen sind kein übles Beispiel dafür, wieviel Schachte in den harten Fels eines undurchforschten Materials schon durch ein schlichtes Zusammenfalten und Auseinanderbreiten großer Stoffmassen gesprengt werden können, und nicht mehr als dieses Ziel, dem wir uns nur in anderer Form als bisher zu nähern suchten, schwebte uns auch bei der Bearbeitung dieses Bandes vor.

Eines läßt sich über die hier behandelten Tiergeschichten schon heute sagen: die wirkende Triebkraft zu ihrer Entstehung in dunkler Vorzeit liegt in der liebevollen Naturbeobachtung. Sie ist die gemeinsame Wurzel, aus der die kunstlosen Sagen, die phantastischen Märchen und die ernsten, mahnenden Fabeln emporgewachsen sind, ohne sie wären Tiergeschichten nicht denkbar. Dazu gesellte sich, früh schon nach unseren Begriffen, aber doch erst nach langer Entwicklung eine Neigung zu humorvoller Ausgestaltung der anfänglich schlichten, kurzen Erzählungen. Nun galt es vor allem den Betrogenen und den Betrüger nach menschlichem Vorbild recht lebendig darzustellen, jenen mit Hohn und Spott zu überschütten und diesen als listig, klug und gewandt zu feiern. Aus dieser Neigung heraus erklärt sich so manche seltsame Situation, die an sich kein unmittelbares Gegenstück im wirklichen Naturleben hat, letzten Grundes aber doch aus ihm hervorgegangen ist, weil die Grenzen zwischen Möglichem und Unmöglichem, Erlebtem und nur Vorgestelltem, zwischen menschlichem Bewußtsein und tierischem Triebleben nicht beachtet wurden. Ja, das Unwahrscheinliche und Komische steigert sich immer mehr, die drastische Situation wird[4] Trumpf, die scharfgeschliffene Pointe krönt das Ganze, – und die einst anspruchslose kleine Sage wird zum anekdotenhaft aufgeputzten Tierschwank, der sich gern in grotesken Übertreibungen gefallt.

Dieser schematisch skizzierte Werdegang läßt sich an unseren Wanderstoffen noch hier und da beobachten. Man vergleiche etwa die einfache äsopische Urform des Wettlaufs zwischen Hase und Schildkröte mit den breiterzählten Fassungen auf S. 51, 59, 73 oder den Wettflug der Vögel bei Neckam mit den Weiterbildungen aus jüngster Zeit. Da genügt der kleinste Zug, das unscheinbarste Motiv zur Verknüpfung mit neuen Stoffen, zur Erweiterung des agierenden Personals und zur Ausschmückung der ursprünglichen, knappen Handlung. Das nie rastende Unterhaltungsbedürfnis sucht hier in phantasievoller Schilderung sein Genügen, unbekümmert um die Forderungen einer festen, logischen Komposition.

Aber auch das Gegenteil ist für unsere Wanderstoffe charakteristisch. Sie treten, wenn auch seltener als in erweiterter, so doch zuweilen auch in verengter und fast bis zur Unkenntlichkeit entstellter Form auf (vgl. S. 22 Nr. 4, 33 Nr. 6, 44 Nr. 15, 92 Nr. 68 a u. b, usw.). Denn weil sie von dem ständigen Flusse der mündlichen Tradition getragen werden, sind sie Umformungen jeder Art ausgesetzt und weichen in ihren Variationen in der Regel dergestalt voneinander ab, daß sich zwei Erzählungen über einen Stoff aufs Haar gleichen wie zwei ihrer menschlichen Erfinder und Verbreiter.

Betrachten wir die einzelnen Kapitel unseres Bandes auf ihre Stoffe hin genauer, so finden wir einheitliche Themata in 1–4 und 8, größere Komplexe aber, doch zusammengehalten durch das Hauptmotiv oder die auftretenden Tiere, in 5–7. Diese Verteilung ist lehrreich und interessant. In den ersten Kapiteln werden singuläre Einzelfälle in erzählender Form behandelt, es sind Fabeln, oder Anekdoten, wenn man will; in 5–7 dagegen werden ganz allgemeine Fragen nach den Beziehungen der Tiere untereinander in märchenhafter Form erläutert. Um die Feindschaft zwischen einzelnen Tiergattungen geht es hier, die wichtige Frage nach dem Königtum wird beantwortet, und endlich, im vorletzten Kapitel, wird ein Tier, das vor allen anderen seit jeher durch seine Schlauheit Bewunderung erregt, zum Gegenstand eingehender Betrachtung gemacht. Kein Wunder also, daß bei der Erörterung so wichtiger Probleme die Motive hier im einzelnen auseinandergehen. Das liegt zum großen Teil natürlich auch am verschiedenen Personal, das jeweils in den Mittelpunkt der Handlung tritt. Einmal ist es der Hund, dann die Katze; die Königswahl geht unter Vögeln sowohl wie Fischen vor sich, und Feindschaft gar herrscht unter allen möglichen Tieren in Haus und Hof, Wald und Feld, ja sogar im Wasser.

Weit häufiger als in jenen ersten Abschnitten finden wir daher in 5–7 Ätiologien, vielfach reine, ursprüngliche, wenn die betreffenden Stoffe auf sie hin komponiert sind, gelegentlich aber auch willkürliche, wenn die Handlung in sich geschlossen ist und aus der Situation fließende Folgerungen eigentlich nicht zuläßt (s.S. 146 f., 153, 159, 160, 214, 237 f).[5]

Die Ätiologien weisen eine gewisse Einförmigkeit auf, die vom ständig wiederkehrenden Hauptthema naturgemäß gefordert wird, es fehlt die Buntheit der Motive und intimen Details, wie sie in den selbständigen Bildungen des 3. Bandes zutage trat. Die Feindschaftsbegründung steht obenan, äußere Merkmale und Gewohnheiten werden erklärt und die Herrscherwahlen der Tiere geschildert, – das ist im wesentlichen alles, was sich dem Stoff abgewinnen läßt. Zum Verwundern ist es nicht, wenn man die überreiche Liste der auftretenden Tiere in Band III mit der im vorliegenden Bande vergleicht. Interessant ist hierbei die Tatsache, daß sich die Wanderstoffe nur mit solchen Tieren beschäftigen, die auch dem primitiven Menschen gut bekannt gewesen sind. Teils sind es jagdbare, teils gezähmte Tiere oder aber wenigstens solche, die in der nächsten Umgebung der Menschen leben, wie Frösche und Vögel.

Landschaftliche Verschiedenheiten machen sich dabei schon bei flüchtigem Hinsehen bemerkbar, denn je nach der Herkunft der Stoffe treten Tiere des Südens (wie Affe, Schildkröte und Pfau) oder die des Nordens (Bär, Wolf, Fuchs, Nordseefische) in den Vordergrund. Es läßt sich ferner auch beobachten, daß die Tradition über die Haustiere nur im nördlichen und mittleren Europa zu reicher Blüte gelangt ist, der Süden und Asien kennen sie kaum. Aus diesen Erzählungen spricht ein gemütvolles Einssein mit den Insassen der eigenen Behausung, das wohl nur für den Bauern solcher Gegenden charakteristisch sein dürfte, deren Klima ein weit längeres Zusammensein mit den Haustieren im Laufe des Jahres fordert als der milde Süden, wo sich das Leben überhaupt viel mehr als bei uns außerhalb des Hauses abspielt. Insbesondere sind Hund und Katze die europäischen Haustiere κατ᾽ ἐξοχήν und haben daher vor allem in solchen Märchen und Schwänken ihren Platz, die auf unserem Erdteil entstanden sind.

Betrachtungen dieser Art über die Personenliste der Erzählungen führen eben auch zu den Fragen nach der Urheimat und den Wegen der Verbreitung unserer Stoffe, die in vieler Hinsicht interessant sind. Die Stoffe der Kapitel 1 und 2 lassen sich auf indische Vorbilder zurückführen, die wir bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte verfolgen können, aber viel älter sein mögen. Abschnitte 3 und 4 bringen Fabeln, die vermutlich in Griechenland entstanden sind und im äsopischen Zeitalter ihre erste schriftliche Fixierung erhalten haben. Die Sagenkomplexe in Kapitel 5–8 sind verschiedener Herkunft: orientalisch-indische Quellen, Äsop und Phädrus repräsentieren den Süden, daneben gibt es unzweifelhaft europäische Stoffe (Feindschaft zwischen Hund, Katze, Maus; Königswahl der Fische; die Feldschlacht zwischen dem fliegenden und laufenden Getier; Krieg der Haustiere und Waldtiere; vieles aus den Fuchsmärchen usw.), die sich z.T. auch noch genauer lokalisieren lassen (s.S. 172, 192 f., 199, 218 f.).

Wir sind berechtigt, aus diesen Tatsachen den Schluß zu ziehen, daß unsere Wanderstoffe unter den Tiermärchen drei Zentren der Entstehung – Indien, Griechenland, Mittel- und Nordeuropa – gehabt und sich von ihnen aus verbreitet haben. An diesen drei Punkten haben sich die Gebilde höherer[6] Ordnung entwickelt, als welche Wanderstoffe im Vergleich zu den mehr singulären Erzählungen des vorigen Bandes gelten müssen; sie haben eine straffe Komposition und scharfe Pointierung gewonnen und dadurch die Möglichkeit weitester Verbreitung erlangt, die etwa den weitausspinnenden, verschwommenen und sprunghaften Erzählungen der Indianer schwerlich je hätte zuteil werden können, selbst wenn sie von ihrer geographischen Lage mehr begünstigt gewesen wären.

Die lange, feilende, oft literarische Tradition zeigt sich an unseren Wanderstoffen sehr deutlich. In den gut überlieferten Fassungen ist kein Zug zu viel, keiner zu wenig; ein jeder sitzt an der rechten Stelle und ist für das Verständnis der Handlung unentbehrlich. Die Vermutung liegt nahe, daß ähnlich wie bei den Märchen, so auch hier mehr Stoffe, als wir heute beweisen können, eine individuell erdachte, künstliche Entstehung haben. Vieles Fernliegende, Groteske, Erkünstelte und Symbolische würde auf Grund dieser Annahme leicht erklärt werden können. Einzelmotive, so ist man versucht zu glauben, sind wohl Eigentum eines ganzen Volkes gewesen, aber erst der begabte Erzähler, dem viele lauschten, hat sie verbunden und zu abgerundeten, fesselnden Geschichten geformt.


A.v.L.[7]

Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4.
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