Vorwort.

Die Schätze kindlich naiver Dichtung, zuerst von den Brüdern Grimm gehoben (1812), führen uns in ein jugendlicheres Alter unseres Volkes zurück. Abgesehen von ihrer Bedeutung für die Völkerpsychologie wird man unserer Jugend die Märchen niemals entziehen können, und wo die mündliche Überlieferung aufhört, wird die gedruckte ihren Platz einnehmen.

Auch in der deutschen Ostmark und den angrenzenden Donauländern hatte man seit 50 Jahren angefangen, diesen harmlosen Volkserzählungen einige Aufmerksamkeit zu schenken, allein theils wurden sie novellistisch verarbeitet, theils hat man Ortssagen, Märchen, Legenden u.a. Geschichten nicht unterschieden. Schlicht erzählt, wie sich's gebührt, waren die wenigsten; dagegen die Zingerle in Tirol und Fräulein Wilhelmine Karadschitsch in Serbien haben den volksthümlichen Ton angeschlagen. Mehr haben die Herausgeber, denen eine dichterische Auffassung nicht eigen war, an den Sagen des Volkes sich versündigt durch allerlei Zuthaten, selbst dadurch, daß sie das Überlieferte in Versen erzählten. Jacob Grimm schrieb mir einst (in einem Briefe vom 3. Febr. 1850):

»Wer aus der volkssage romanzen dichtet, bindet blumen in einen üppigen kranz, der nur den kleinsten[3] theil ihres wachsthums, zerknittert und unter fremdes laub gedrückt, sehn lässt; der natürliche beschauer will sich an allem, an stengel, laub, knospe wie an der blüte freuen.«

Wenn schon die Mannigfaltigkeit und Schönheit der Pflanzenwelt, das absonderliche Äußere der Land- und Meerthiere unsere Bewunderung hervorruft, um wie viel mehr die Gebilde und Richtungen der Volksphantasie, die an sich schon die Berechtigung in sich tragen und unser Denken in Anspruch nehmen!

Zwei Hauptrichtungen sind dabei zu unterscheiden: Sagen und Märchen. Die Sage geht, das Märchen fliegt und entbehrt des örtlichen Halts. Das Märchen schließt die reine kindliche Weltbetrachtung in sich, es verweilt gern auf mythischem Grunde, während die Sage am vorgeschichtlichen und örtlichen Boden haftet. Das Wunder ist des Märchens liebstes Kind, dessen Leben kein wirkliches ist, aber Kinder glauben zumeist noch an die Wirklichkeit der Märchen und ihr Verstand sondert nicht viel darin. Das spätere Leben wird ihnen noch früh genug eine andre Seite bieten. Jedes Lebensalter hat eben seine gewisse Empfänglichkeit und Berechtigung.

Über den sonstigen Wert dieser Überlieferungen äußert sich ein Hauptkenner, nämlich Wilhelm Grimm (im 3. Bde. der verbreitetsten Märchen-Sammlung S. 409): »Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinaufreichenden Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung übersinnlicher Dinge ausspricht. Dieß Mythische gleicht kleinen Stückchen eines zersprungenen Edelsteins, die auf dem von Gras und Blumen überwachsenen Boden zerstreut liegen und[4] nur von dem schärfer blickenden Auge entdeckt werden. Die Bedeutung davon ist längst verloren, aber sie wird noch empfunden, und gibt dem Märchen seinen Gehalt, während es zugleich die natürliche Lust an dem Wunderbaren befriedigt.«

Und mit Wissensdingen und moralischen Erzählungen allein sind Kinder nicht zufrieden, weil ihre Phantasie zuweilen auch Nahrung haben will. Nur das Übermaß ist hier, wie überall, vom Übel.

Ich rathe daher Folgendes. Bei passenden Gelegenheiten mögen Mütter ihren Kindern oder ältere Geschwister ihren jüngern oder Lehrer ihren Schülern ein oder anderes Märchen auswählen, dasselbe vorlesen oder erzählen. Also nur von Zeit zu Zeit; auch wird man mich nicht mißverstehen, wenn ich sage, man solle den Kindern keine Schachtel voll Zuckerwerk zur Aufbewahrung überlassen. – –

Und nun einige Worte über die vorliegende Sammlung. Während ich vor etwa 30 Jahren die Alpensagen (Wien bei Seidel) und die österreichischen Mythen und Bräuche (Wien bei Braumüller) für wissenschaftliche Zwecke sammelte, und im Vereine mit meinem jungen Freunde Franz Branky auch die österreichischen Kinderspiele herausgab, konnte es mir nicht entgehen, daß die Poesie des Volkes (vorzüglich in Niederösterreich, Böhmen und Mähren) noch eine Ausbeute zuließ. Daher ließ ich mir im Verlaufe vieler Jahre auch die hier gebotenen Kinder- und Hausmärchen erzählen und schrieb sie getreu auf, wie sie im Munde des Volkes damals noch lebten. Darunter traf ich natürlich manche Varianten zu Grimms Sammlung u.a.; denn bei Sagen und Märchen haben immer Wanderungen stattgefunden und es konnte nicht anders sein,[5] daß in dem vielsprachigen Österreich auch Fremdes eindrang. Auch ist wahrzunehmen, daß Sagen und Märchen leicht in einander verfließen. –

Die mitgetheilten 60 Märchen erscheinen nunmehr in zweiter fast unveränderter Auflage. Im Jahre 1884 sind sie – ohne mein Wissen – ins Englische übersetzt von E. Johnson mit dem Titel: In the land of marvels, folk-tales etc. by Th. Vernaleken (London bei Swan Sonnenschein). Hat nun ein Leser dabei ein sprachliches Interesse, so möge er beide Bücher neben einander lesen.

Für Fachkundige, die wissenschaftliche Zwecke verfolgen, habe ich am Schlusse Anmerkungen hinzugefügt und den Ort angegeben, wo das Märchen zuletzt erzählt ist, außerdem einige Vergleichungen und Winke für Mythologen, denen ich schon in meinen »Mythen und Bräuchen« manches geboten habe. Einiges werden sie auch in den Anmerkungen (S. 287 fg.) zu diesen Märchen finden.

Graz in Steiermark, im September 1891.

Theodor Vernaleken,

vormals Director des kaiserlichen Lehrerseminars in Wien.[6]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980).
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