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Lilina

[218] Die Pakwadschinnis oder die kleinen Luftgeister vom Oberen See sind ein gar lustiges und munteres Völkchen. Wenn heller Mondschein die Erde färbt und angenehme Luft ihr Geisterwäldchen fächelt, führen sie ihre anmutigen und neckischen Tänze unter Begleitung sanfter Musik auf und lassen sich dabei häufig von neugierigen Fischen in angemessener Entfernung bewundern. Doch sind sie lange nicht so harmlos und unschuldig, wie sie aussehen, denn sie spielen Jägern und Fischern mitunter manchen empfindlichen Schabernack, rauben ihnen häufig die Federn vom Kopf oder stehlen ihnen nächtlicherweile das Bärenfett oder zerschneiden ihnen heimtückisch die Bogensehnen. Ja einmal raubten sie sogar die Tochter eines berühmten Chiefs.

Diese hieß Lilina, war etwas sentimentaler und schwärmerischer Natur und liebte es, sich an entlegenen[218] Plätzen in allerlei spirituistischen Grübeleien und Gedanken zu ergehen. Sie war sehr klein und federleicht von Körper; an Schönheit aber war sie eine wahre Nymphengestalt.

Ihre Mutter hatte ihr oft gesagt, sie solle sich nicht so weit vom elterlichen Haus entfernen, damit sie nicht von den Pakwadschinnis unversehens weggeschleppt würde; aber sie hörte nicht auf ihre Worte und setzte ihre einsamen Wanderungen fort, denn sie wollte gerne die Gegend kennenlernen, wo weder Blutvergießen noch Sterbefälle vorkämen, wie ihr alte Medizinmänner so häufig erzählt hatten.

Um dieser Sache nun eine andere Wendung zu geben, suchte die Mutter einen Bräutigam für sie und setzte den Tag der Hochzeit fest. Der Auserkorene war ein benachbarter Jäger und Krieger, der den Kriegspfad schon oft betreten hatte, ohne jedoch jemals einen einzigen Skalp erbeutet zu haben.

Lilina willigte auch ein. Sie zog ihr bestes Kleid an, steckte Blumen ins Haar und bat um die Erlaubnis, vom Geisterwald Abschied nehmen zu dürfen, was ihr auch freundlichst gewährt wurde.

Auf ihre Rückkehr wurde vergebens gewartet. Das einzige, was man noch von ihr erfuhr, war, daß sie ein Fischer in den Armen eines großen Luftgeistes gesehen hatte, dessen Kopf mit grünen Federn geschmückt war.

Quelle:
Knortz, Karl: Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas. München: Verlag Lothar Borowsky, 1979, S. 218-219.
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