[309] 116. Die Totenbraut

Ein Mann, der eine Liebste hatte, starb. Da hörte seine Liebste, daß er gestorben war.

Als er nun gestorben war, wurde er begraben und, man tötete alle seine Pferde auf dem Grabe; alle seine Habe wurde mit ihm in das Grab gelegt, sein Sattel, seine Sporen, sein Messer, seine Reitpeitsche, seine Lanze, alles wurde mit hineingelegt.

Über zehn Tage nachher ging der Tote zu der Frau, die er zur Liebsten gehabt hatte. Gegen Abend kam er an. Bei der Ankunft sagte sie zu ihm: »Man hat mir gesagt, du seiest gestorben.«

»Das ist doch aber eine Lüge,« antwortete er; »die Menschen lügen ja so viel.«

Da legte er sich schlafen zusammen mit einem Knaben; und wie sie dalagen, wollte der Knabe ihn umarmen.

»Ach, tu mir das nicht, Genosse,« sagte da der Mann. »Mich schmerzt gar sehr meine Seite.«

Spät in der Nacht, als alle Leute schliefen, kam er zu seiner Liebsten und sagte: »Ich bin gekommen, weil die Leute schon lange über uns sprechen. Nun wollen wir uns gleich verheiraten. Noch in dieser Nacht wollen wir entfliehen.«

»Mir ist es recht,« sagte da die Frau. »Aber du hast all dein Sattelzeug im Hause gelassen; wie willst du es herausholen?«

»Ich allein weiß, wie ich es holen werde,« sagte da der Mann.[309]

»Gut, so sattle dein Pferd und laß uns gehen,« antwortete die Frau.

Da sattelte er sein Pferd, und niemand von all den Leuten im Hause merkte es. Dann ging er hin zu der Frau und sagte:

»Das Satteln ist schon geschehen.«

So ritten sie zusammen davon.

Eine kleine Strecke war er galoppiert, so fing er an zu singen:


»Weit in blauer, blauer Ferne

Liegt das Land, wohin wir ziehn.«


Da kam er mit einem Male der Frau ganz verändert vor: »Warum singst du so beim Reiten?« fragte sie den Toten.

»Das taten vor Alters unsere Vorväter immer, wenn sie ein Mädchen als Frau entführten,« sagte der Mann.

Darauf kamen sie bei dem Grabe an; da wurde das Mädchen wahnsinnig.

Zwei Tage nachher sagte der Vater des Mädchens: »Ich will mich aufmachen.«

Er machte sich auf und kam bei dem Vater des Mannes an.

»Ich bin gekommen, um zu sehen, wie's mit meiner Tochter steht, die hier im Hause versteckt ist.«

»Wo habe ich denn einen Sohn?« sagte da der Greis.

»Hast du etwa keinen?« antwortete der andere.

»Ach, schon längst über zehn Tage ist es her, daß mein Sohn starb,« erwiderte der Greis.

Da gingen sie zum Friedhof und sahen das Mädchen auf dem Pferde des Toten sitzen, und sie weinte bitterlich. Da führten sie sie mit sich weg und brachten sie in ihre Heimat. Aber sie konnte sich nie wieder eingewöhnen; man hielt sie im Hause zurück, und wohl zehnmal ging sie davon immer zu dem Grabe ihres Geliebten.

Da sagte der Vater des Toten: »Ich will das Mädchen kaufen.« Und man gab sie ihm auch, wie man erzählt, und er tötete sie auf dem Grabe seines Sohnes.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 309-310.
Lizenz:
Kategorien: