[188] 67. Der Knabe und der Bakurao

Eine Mutter ging mit ihrem Knaben in die Pflanzung, und während sie Maniokwurzeln ausriß, schoß der Knabe am Waldrande nach Vögeln. Ein Bakurao flog vor ihm auf und setzte sich ein Stückchen weiter nieder. Der Knabe schoß einen Pfeil nach ihm ab, der aber nicht traf. Der Vogel flog darauf wieder ein Stück weiter und wartete. Der Knabe lief ihm nach und schoß zum zweitenmal, ohne zu treffen, worauf der Vogel wieder ein Stück weiterflog. So verfolgte der Knabe vergebens seine Beute weit in den Wald hinein, bis der Bakurao schließlich aufflog und zwischen den Bäumen verschwand.

Der Knabe sah nun, daß er sich zu weit von der Pflanzung seiner Mutter entfernt hatte. Er nahm Richtung und lief durch den Wald zurück. Bald darauf stand er am Ufer eines[188] großen Stromes. – »Wie kommt denn das, daß ich hier einen Strom antreffe, der auf dem Hinweg gar nicht vorhanden war?« dachte der Knabe. »Das hat mir der Bakurao angetan!« – Er ging nun am Ufer auf und ab und schlief schließlich im Wald. So irrte er tagelang zwecklos an dem Fluß umher.

Eines Tages hörte er einen Specht schreien. – »Wenn ich doch fliegen könnte wie ein Specht,« sagte der Knabe zu sich selbst, »so würde ich gleich an das andere Ufer fliegen!« – Und dann setzte er hinzu: »Wenn der Specht wie ein Mensch wäre, so würde ich ihn bitten, mich hinüberzutragen.«

Da kam der Specht geflogen, setzte sich dicht vor ihm an einen Baum und fragte: »Was hast du gesagt?« – Der Knabe wiederholte seine Bitte. Da wurde der Specht riesengroß und sprach zu ihm: »Setze dich nur auf meinen Rücken, ich werde dich hinüberbringen.« – Der Knabe tat es mit Freuden, als aber der Specht in seiner Art zu fliegen begann – zuerst sich fast zu Boden fallen lassend und dann wieder jäh aufsteigend – wurde dem Knaben Angst, und er bat ihn, er möge ihn wieder absetzen. So blieb er wieder am Ufer zurück.

Da sah er einen mächtigen Alligator mitten im Fluß auftauchen und das Wasser mit seinem Schweif schlagen. »Wenn der mich doch hinüberbringen wollte!« sprach der Knabe. Da schwamm der Alligator heran und fragte ihn, was er wolle. Der Knabe brachte seine Bitte vor, und der Alligator hieß ihn auf seinem Rücken Platz nehmen. Dann schwamm er mit ihm dem anderen Ufer zu. Als sie in die Mitte des Stromes gekommen waren, befahl der Alligator dem Knaben: »Jetzt sollst du mir alle Schimpfnamen geben, die du kennst!« Der Knabe wollte es aber nicht tun, denn er wußte, daß ihn der Alligator dann fressen würde. So kamen sie dem Ufer näher, und schließlich sprang der Knabe mit einem Satz ans Land und entfloh. Er lief, verfolgt von dem Alligator, in den Wald hinein und kam an eine Lagune. Da stand der Reiher und fischte. »Warum[189] rennst du denn so?« fragte er den Knaben. – »Ich fliehe vor dem Alligator, der mich verfolgt und fressen will,« antwortete dieser. – »Komm her!« sprach der Reiher, »ich werde dich in meinem Fischnetz verstecken.« – Mit dem Fischnetz aber meinte er seinen Kropf. Er spie vier Trahirafische aus, die er im Kropfe hatte, verschluckte den Knaben und darauf wieder die vier Fische.


67. Der Knabe und der Bakurao

Da kam auch schon der Alligator auf der Spur des Knaben daher und fragte den Reiher, wo der Knabe hingegangen sei. Der Reiher bestritt, daß der Knabe hier vorbeigekommen sei, aber der Alligator bestand darauf, weil seine Spur hierher führe. – »Gewiß hast du ihn verschluckt,« sprach er, »laß sehen, was du in deinem Kropfe hast!« – »Ich habe nur vier Fische gefangen,« antwortete der Reiher und spie die Fische aus. »Da sind sie!« – Da kehrte der Alligator um, und der Reiher ließ den Knaben wieder aus seinem Kropf heraus.

Der Knabe ging weiter und kam auf einen breiten Weg. – »Das ist der Weg zu meinem Dorf,« dachte der Knabe, es war aber der Weg der Wildschweine. Als er ihn weiter verfolgte, kam er an die Wohnung der Wildschweine. Sie fragten ihn, woher er komme, und er berichtete ihnen die Geschichte seiner Irrfahrt. Da luden ihn die Wildschweine ein, bei ihnen zu bleiben. Sie hatten alle ihre Tierhäute an, die sie aber zu Hause ablegten, um Menschengestalt anzunehmen. Der Knabe erhielt auch seine Tierhaut, damit er sich in ein Wildschwein verwandeln konnte, und blieb nun lange Zeit in seiner neuen Gesellschaft.

»Laßt uns Manduvi (Erdnüsse) sammeln!« sprachen die Wildschweine eines Tages, und sie gingen Jutahi- und Kopaybakerne suchen, das waren ihre »Manduvi«. Dann brachten sie sie nach Hause und stießen sie im Mörser; das war das Mehl der Wildschweine.

Eines Tages beschlossen die Wildschweine, in die Pflanzung[190] zu gehen, um Bataten, Maniok und Kara zu stehlen. Am folgenden Tage machten sie ihre Körbe und Kiepen zurecht und gingen nach der Pflanzung. Während die anderen die Erde nach den Wurzeln umwühlten, ging der Knabe umher. Plötzlich blieb er vor einem umgestürzten Baume stehen und sprach: »War es nicht hier an diesem Baum, wo meine Mutter ihren Korb hinstellte an jenem Tage, als ich den Bakurao verfolgte und mich im Walde verlor? Das ist die Pflanzung meiner Mutter!« – Da zog er seine Tierhaut aus, und während die Wildschweine ihre Lasten zurecht machten, versteckte er sich. Er ließ sie fortgehen und blieb allein an dem Baum zurück.

Nach einer Weile sah er seine Mutter kommen. Sie stellte ihren Korb an der gewohnten Stelle nieder, und als sie sich umdrehte, erblickte sie ihren Sohn. Da weinte sie und wollte ihn umarmen; er aber sprach: »Fasse mich nicht an, Mutter, bleibe dort stehen und weine!« – Dann forderte ihn seine Mutter auf, nach Hause zu kommen, und er folgte ihr von fern. Zu Hause aber hielt er sich stets von den Leuten abgesondert, schlief in einer Ecke und sang die ganze Nacht hindurch von seinen Abenteuern, sowie die Gesänge, die er bei den Wildschweinen gelernt hatte. Er war selbst schon zum Wildschwein geworden.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 188-191.
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