[25] 7. Die Speerbeine

[25] Es lebten einmal zwei Brüder, die beide gern auf die Jagd gingen. Eines Tages, als sie tief im Innern des Waldes waren, hörten sie den frohen Lärm eines Trinkfestes. Der ältere Bruder sagte: »Komm, laß uns zu den Leuten gehen!« Aber der jüngere Bruder antwortete: »Nein, das können unmöglich wirkliche Menschen sein, die hier so weit draußen im Walde ein Fest feiern; es müssen irgendwelche Gespenster sein!« Der ältere Bruder bestand jedoch auf seinem Willen.

Sie folgten dem Schall der Stimmen und kamen an ein Haus, wo anscheinend wirkliche Menschen sehr vergnügt waren. Die Besucher wurden eingeladen sich zu setzen, und man bot ihnen Getränke an. Der ältere Bruder überließ sich der Fröhlichkeit; der jüngere lehnte alles ab, weil er ängstlich war. Tatsächlich war sein Argwohn begründet, denn die Leute, die das Fest feierten, waren wirklich keine Menschen, sondern die Geister der Warekki, großer Regenfrösche, die menschliche Gestalt angenommen hatten.

Nach einer Weile gingen die beiden Brüder weiter, und da die Nacht rasch hereinbrach, machten sie sich ein Schutzdach. Der Ältere sandte den Jüngeren aus, Brennholz zu suchen. Als das Schutzdach fertig war, und das Feuer brannte, banden sie ihre Hängematten an. Nach und nach ließ der ältere Bruder von dem jüngeren immer mehr Holz auf das Feuer legen, wieder und immer wieder, bis ein riesiges Feuer aufloderte. Nach einiger Zeit bemerkte der jüngere Bruder einen sonderbaren starken Geruch. Da blickte er um sich und sah, daß seines Bruders Beine aus der Hängematte heraus über dem Feuer hingen. »Gib acht!« rief er. »Deine Beine verbrennen!« Aber der Bruder sagte nur: »Akká! Akká!« und zog seine Beine in die Hängematte. Bald darauf ließ er sie wieder ins Feuer hängen. Da er nicht betrunken gewesen[26] war, sah der jüngere Bruder dieses seltsame Gebaren für ein schlimmes Zeichen an. Er kümmerte sich nicht mehr darum, weil seine Warnung mißachtet wurde, und ließ seines Bruders Beine brennen.

Nach einer Weile merkte dieser selbst, daß seine beiden Füße gänzlich verkohlt waren und das Fleisch von seinen Schienbeinen abgebrannt. Kurz entschlossen, schabte er das Fleisch völlig ab und spitzte die Schienbeine mit dem Messer zu. Da lag er nun hilflos in der Hängematte. Er konnte nicht mehr jagen; nur ab und zu, wenn ein Vogel vorbeiflog oder ein kleines Tier vorbeilief, stieß er mit dem Bein danach und spießte es mit den zugespitzten Knochen auf. Hierin erlangte er bald große Gewandtheit.

Der jüngere Bruder trug ihn oft sorgsam in den Schatten eines großen Fruchtbaumes, kletterte an dem Stamm hinauf und schüttelte die Äste, damit der Bruder die Früchte, die herabfielen, auflesen konnte. Dann wieder schoß er kleine Vögel für ihn, so viele, daß sie in der näheren Umgebung allmählich selten wurden. Dadurch begann das Unheil. Der Kranke wollte seinen Bruder niemals aus seinem Gesichtskreis fortlassen und rief ihn stets zurück, noch bevor er seinen Pfeil abschießen konnte. Schließlich war der Bruder ganz verzweifelt; er wagte nicht fortzulaufen, da der Kranke gedroht hatte, ihn zu töten, wenn er es je wagen sollte. So sann er auf eine List. Er sagte: »Bruder, rufe jetzt einmal nicht nach mir! Mein Pfeil ist auf einem Baum stecken geblieben. Ich muß hinaufklettern, und es wird einige Zeit dauern, bis ich zurück sein kann.« Das war aber alles gelogen. Es war nur ein Vorwand, um fortzukommen.

Der Kranke wartete und wartete in seiner Hängematte und fing endlich an zu rufen, aber kein Bruder kam. Er rief, er schrie, er brüllte, aber der Bruder kam nicht. Er sprang aus der Hängematte, um die Verfolgung aufzunehmen. Zu seiner Verwunderung kam er mit seinen zugespitzten Knochen viel rascher vorwärts als früher mit seinen Füßen. Er ging und lief und folgte den Spuren seines Bruders. Dabei jagte er[27] ein Reh auf. Irrtümlicherweise hielt er die Fährte des Rehs für die seines Bruders. So folgte er dem Reh, und als er in seine Nähe kam, warf er sich über das Tier und spießte es mit seinen Beinspeeren an den Boden. Während er es hier und da durchbohrte, sagte er: »Es tut mir leid, mein Bruder, daß ich dich getötet habe; aber es war deine eigene Schuld. Du versuchtest fortzulaufen und mich zu verlassen.« Als er den Leichnam herumdrehte, bemerkte er die schwarze Schnauze des Tieres. »Ach, er hat einen blauen Mund bekommen von den Früchten!« Aber als er die vier Beine sah, kam es ihm sonderbar vor. »Nanu? laß mich die Finger zählen! Eins, zwei, drei. Wie viele habe ich? Eins, zwei, drei – vier, fünf! Laß mich nun den Fuß sehen! Er hat eins, zwei, drei Zehen. Jetzt will ich meine zählen. Eins, zwei, drei – vier, fünf!« Und so überlegte er und kam endlich zu der Überzeugung, daß es unmöglich sein Bruder sein könnte, den er da erschlagen hatte. Daher kehrte er zu seiner Hütte zurück und legte sich in die Hängematte.

In der Zwischenzeit kam der Flüchtling nach Hause und erzählte den anderen: »Etwas ist geschehen mit meinem Bruder. Wir können nicht länger mit ihm Freund sein. Wir müssen ihn töten!« Er zeigte also den Weg, und die anderen folgten ihm in den Wald, wo sie die Hütte umzingelten, in welcher der ältere Bruder ruhte. Sie fürchteten, ihn dort anzugreifen, wegen der geschickten Art, mit der er seine Beinknochen als Speere benutzte. Ihre Absicht war, ihn ins Freie herauszulocken. Dort mußte er diese Knochen als Füße benutzen, und sie konnten ihn ohne Gefahr angreifen.

Sie beschlossen, ihm einen schnell fliegenden Vogel zu senden, der um die Hängematte herumschwirren sollte. Sicher würde er versuchen, ihn in der gewohnten Weise zu stechen, würde sein Ziel verfehlen und zur Verfolgung aus der Hängematte springen. In dieser Voraussetzung sandten sie ihm Huku-huku, den kleinen Kolibri, der hierhin und dorthin flog nach allen Richtungen um die Hängematte herum. Aber er war nicht flink genug, und nach vielen Versuchen gelang[28] es jenem, ihn zu speeren. Da sandten sie ihm Hura, das kleine Eichhörnchen, das viel flinker in seinen Bewegungen ist als der Huku-huku. Er versuchte es viele Male, aber jedesmal verfehlte der Speerknochen sein Ziel. So lockte das Tierchen ihn hinaus ins Freie, näher und immer näher zu dem Kreis der Leute, und als er ganz nahe herankam, fielen sie über ihn her und töteten ihn.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 25-29.
Lizenz:
Kategorien: