[254] 91. Wie der Zitteraal entstand

Es war einmal ein Mann, der fürchtete sich sehr vor dem Wasser und badete sich nicht. Als seine Verwandten eines Tages badeten, sprach er: »Ich will hingehen und ihnen zusehen!« Er tat es, setzte sich an das Ufer des Flusses und schaute ihnen zu. Da sagte einer von ihnen: »Jener Mann, der sich dort hingesetzt hat, fürchtet sich vor dem Fluß. Ich werde ihn hineinstoßen. Gebt acht!«

Der Mann fürchtete sich sehr vor dem Fluß; er zitterte und zitterte. Da kam der andere von hinten und stieß ihn. Er fiel in den Fluß und konnte nicht das Steilufer herauf aus dem Wasser kommen. So konnte er nicht mehr atmen und ertrank.

Der Mann tauchte unter, und die Fische zwickten ihn. Da stieß sie der Mann mit dem Fuß weg. Darauf kam der Alligator und sah den Mann. Dieser wollte ihn schlagen, aber der Alligator machte sich davon. Da zwickten alle Fische[254] den Mann. Darauf kam die Pirahiba und verteidigte ihn. »Ihr kleinen Fische,« sprach sie, »zwickt mir diesen Mann nicht! Er gehört mir.«

So verteidigte die Pirahiba den Mann. Wenn sie nicht gekommen wäre, hätten alle Fische ihn gezwickt und nichts von ihm übrig gelassen.

Die Pirahiba nahm den Mann mit sich und zeigte ihn ihren Verwandten, und diese freuten sich, als sie ihn sahen.

Dies sind die Verwandten der Pirahiba: Der Alligator, der Surubim, der Piraruku, die Wasserschlange, die große Piranya, die große Trahira und der große Jundia.

Die Pirahiba zeigte ihn ihren Verwandten und fragte ihn dann, was er wünsche. Der Mann war voll Zorn und bat die Pirahiba um eine Keule. Er sprach zu ihr: »Ich will meine Leute schlagen, die mich ins Wasser gestoßen haben. Deine Verwandten habe ich nun gesehen.«


91. Wie der Zitteraal entstand

Da gab ihm die Pirahiba die Keule, und der Mann ging hin und verwandelte sich. Darauf suchte er seine Leute, aber sie waren schon weggegangen, und er sah niemand. Da wurden schon alle seine Knochen weich, und sein ganzer Körper wurde kalt. Der Fluß wurde sehr tief und ganz kalt.

Darauf sprach der Mann: »Soll ich mich nun in einen Zitteraal verwandeln?« Er zitterte und zitterte und ergriff seine Keule. Da fürchteten sich alle Fische, als der Fluß kalt wurde. Auch die Pirahiba fürchtete sich und sprach: »Wie hat der Mann den Fluß so tief und kalt gemacht? Ich will dem Kaschinaua zusehen.« Und sie ging hin und beobachtete den Mann auf dem ganzen Weg. Sie sah, wie er voll Wut mit allen Fischen kämpfte, und sprach: »Warum kämpft nur dieser Mann mit allen Fischen?« Und sie beobachtete ihn weiter.

Der Mann aber sagte: »Ihr habt mich gezwickt, aber die Pirahiba hat mich verteidigt. Deshalb schlage ich euch.« Da fürchteten sich alle Fische und flohen.[255]

Schon wurde der Leib des Mannes weich, und sein Kopf verkleinerte sich. Alle Knochen seines Körpers erweichten sich. Seine Füße verwandelten sich in einen Schwanz, und in dem Schwanz befestigte sich seine Keule, mit der er jene schlagen wollte. Alle Fische aber fürchteten sich und flohen weit weg.

Der Mann verwandelte sich in einen Zitteraal. Der Zitteraal ist sehr kalt. Nun wohnt er dort, wo es sehr tief und sehr kalt ist.

Die Verwandten des Mannes sprachen: »Wir wollen fischen!« und sie gingen hin. Mitten im Fluß fischten sie. Da kam der Zitteraal und schlug einen von ihnen.

Dieser schrie, wurde ohnmächtig und fiel hin. Da rief ein anderer: »Der Zitteraal schlägt!« und sie fürchteten sich und liefen davon. Die Männer aber sprachen: »Jener Mann, den wir, als wir badeten, mitten in den Fluß gestoßen haben, schlägt uns jetzt. Er hat sich in einen Zitteraal verwandelt und ist zornig auf uns und schlägt unsere Leute.«

Der Zitteraal blieb sehr zornig. Sehr viele Fische fürchten ihn; auch unsere Leute fürchten ihn. Von allen ihren Verwandten fürchtet ihn nur die Pirahiba nicht. Der Alligator aber fürchtet ihn, weil er so zornig ist.

Dieser Zitteraal wohnt dort, wo der Fluß sehr tief und sehr kalt ist. Er ist sehr weich. Wenn er seine Leute schlägt, tut er es mit der Spitze seines Schwanzes.

Dies ist die Geschichte von dem zornigen Mann, der sich in einen Zitteraal verwandelte.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 254-256.
Lizenz:
Kategorien: