[264] 96. Der auferweckte Ameisenbär

Ein Kaschinaua ging jagen. Ohne Weg drang er tief in den Wald ein und machte sich einen Pfad, indem er beständig die Sträucher mit der Hand knickte. Sehr weit ging er. Allmählich wurde er nachlässig und bezeichnete seinen Weg nicht mehr. Da litt er großen Durst. Vergeblich suchte er Wasser, bis er müde wurde. Schließlich konnte er den Durst nicht mehr ertragen und starb.

Er kam nicht wieder. Seine Söhne warteten auf ihn. Sie suchten ihn. Sie schrien nach ihm auf allen Wegen, bis sie nicht mehr konnten, aber er antwortete ihnen nicht. Sie drangen in den Wald ein und suchten ihn, aber vergeblich. Dann kehrten sie heim und sagten zu ihrer Mutter: »Der Vater hat sich auf der Jagd verirrt, Mutter!«

Die Mutter antwortete: »Ihr habt euren Vater verloren; geht hin und sucht ihn mir!« Dann weinte sie, bis ihre Stimme heiser war. Die Söhne aber drangen abermals in den Wald ein und suchten nach dem Vater.

Da fand der eine Sohn tief im Wald die Knochen eines Ameisenbärs, den andere getötet hatten. Er kam zurück, und seine Brüder fragten: »Der Vater ist wohl schon tot? Wir haben ihn vergeblich gesucht.«

Da antwortete der älteste Bruder: »Der Vater scheint in der[264] Tat schon tot zu sein. Dort liegen seine Gebeine! Ich habe sie gesehen.«

»Wahrhaftig?« riefen die anderen. »Vorwärts, wir wollen sie sehen!« und sie machten sich auf den Weg.

Der Älteste führte seine Brüder hin und zeigte ihnen die Gebeine. Da sagten sie: »Wirklich, das ist der Vater! Laßt uns ihn auferwecken!«

Der eine besserte die Knochen aus; der andere holte ein Zaubermittel; der dritte fügte die Gebeine zusammen. Dann kauten sie das Mittel und bestrichen damit alle Knochengelenke. Darauf richteten sie das Skelett auf, und es verwandelte sich in einen – Ameisenbär.


96. Der auferweckte Ameisenbär

Ein Ameisenbär mit buschigem Fell erhob sich, brummte und brummte und blieb stehen. Die Kaschinaua, die ihn auferweckt hatten, erschraken und liefen davon. Erst weit entfernt machten sie halt und schauten voll Furcht zurück. In demselben Augenblick rannte der Ameisenbär los und verschwand.

Die Kaschinaua kehrten heim und sagten zu ihrer Mutter: »Wir fanden einen Haufen Knochen und glaubten, es seien die Gebeine unseres verstorbenen Vaters. Da verwandelten wir die Knochen, aber, o Schrecken, wir erweckten einen Ameisenbär wieder zum Leben! Der erhob sich, brummte und brummte und blieb stehen. Voll Furcht liefen wir weg. Dann schauten wir zurück. In demselben Augenblick rannte der Ameisenbär los und verschwand. Wir aber machten, daß wir heimkamen.«

So sprachen sie zu ihrer Mutter. Diese aber ließ sie nicht noch einmal weggehen. Sie ließ sie sogar nicht mehr auf die Jagd gehen.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 264-265.
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