Vorwort

[1] Die Märchenwelt der südamerikanischen Indianer ist noch sehr wenig bekannt, sodaß es schwer gehalten hat, genügendes Material für dieses Bändchen zusammenzubringen. Gewaltige Strecken des Kontinents sind noch ganz unerforscht, und die außerordentliche Mannigfaltigkeit der Sprachen setzt einem tieferen Eindringen in die geistigen Schätze der Eingeborenen die größten Schwierigkeiten entgegen. Der Forscher ist in erster Linie auf solche Leute angewiesen, die neben ihrer eigenen Sprache auch das Spanische oder Portugiesische soweit beherrschen, daß sie sich darin verständlich machen können, d.h. solche, die mehr oder weniger lange im Dienste der Weißen gestanden haben. Dabei besteht die Gefahr, daß sie bei diesem Verkehr fremde Elemente in sich aufgenommen und mit ihren eigenen Überlieferungen so innig verquickt haben, daß es oft schwer fällt, altes und neues Gut voneinander zu scheiden, denn nicht immer liegen diese fremden Bestandteile so offen zutage, wie bei den »Grimmschen Märchen« der chilenischen Indianer. Zudem weiß nicht jeder Eingeborene Märchen oder kann sie erzählen. Unter hundert Leuten trifft man vielleicht nur einen einzigen, der diese Gabe besitzt, die in einzelnen Familien durch mündliche Überlieferung weitergepflegt wird.

Die Mission, deren jahrhundertelanger Tätigkeit ausgezeichnetes Material über die Kultur und die Sprachen der südamerikanischen Indianer zu verdanken ist, hat auf diesem Gebiet bis auf wenige Ausnahmen versagt. Der englische Missionar Brett ist so ziemlich der einzige, der uns eine größere Sammlung indianischer Sagen hinterlassen hat, aber wegen seines oft hervortretenden orthodoxen Standpunktes und seiner »verbessernden« Hand bei der poetischen Umarbeitung der indianischen Erzählungen ist sein an sich wertvolles Material nur mit einer gewissen Kritik zu benutzen. Einige seiner Sagen sind im folgenden in Prosa übertragen.

Auch der Missionar, der doch durch seinen oft langjährigen[2] Aufenthalt bei einem Stamm, in einem Dorf und durch seine Kenntnis der einheimischen Sprache weit mehr als der Forschungsreisende dazu befähigt ist, die Tradition der Eingeborenen festzuhalten, sieht sich Gefahren gegenüber, denen er nur zu leicht erliegt. Wenn er wirklich vorurteilslos ist und die Märchen so niederschreibt, wie sie ihm erzählt werden, so sind doch seine Gewährsleute meistens auch seine Zöglinge, die ihm aus leicht verständlicher Scheu nicht alles erzählen, ihm nicht selten nach dem Munde reden und ihre »heidnischen« Geschichten mit frisch gelernten biblischchristlichen Zügen zu verschönern suchen oder allzu kräftige Kost ihrem Lehrer zuliebe verdünnen.

Lange hat die Mythenforschung in Südamerika brach gelegen. Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts setzte sie kräftig ein. Außer Bretts Buch über die Indianermythen Britisch Guayanas sind von größeren Arbeiten hervorzuheben die Sammlung des Brasilianers Barboza Rodrigues von Mythen, Legenden und Fabeln der Indianer des Amazonasgebietes, ferner Karl von den Steinens Stammessagen der Bakairi, die einen sehr ursprünglichen Charakter tragen, und Ehrenreichs Karaja-Sagen, die wichtige Parallelen zu süd- und nordamerikanischen Mythen ergeben. Diesen schließen sich in neuester Zeit an die zahlreichen Märchen, die Nordenskiöld bei den Stämmen Ostboliviens gesammelt hat, das ausgezeichnete, umfangreiche Werk des Brasilianers Capistrano de Abreu über die Märchenwelt der Kaschinaua, eines Indianerstammes im westlichen Brasilien, die große Sammlung des hervorragenden englischen Ethnographen Walter E. Roth von Sagen und Märchen der Küstenindianer Guayanas und endlich meine eigenen Arbeiten über die Mythen und Legender zweier Karaibenstämme Südguayanas. Rechnet man hierzu die Mythen, die der holländische Missionar van Coll neuerdings aus Surinam mitgeteilt hat, so ist Guayana das mythologisch am besten erschlossene Gebiet Südamerikas. Es ist ein buntes Material, das in diesem Bändchen zusammengestellt[3] ist. Schöpfungs- und Heroensagen, die zum Teil wohl aus Naturmythen entstanden sind, wechseln mit einfachen Märchen, Tierfabeln und humoristischen Erzählungen. Zauberei und Verwandlungen mannigfacher Art spielen darin eine Rolle. Einzelne Motive kehren häufig wieder, so das Motiv vom »Besuch im Himmel«, das von der Küste Guayanas bis Chile vorkommt, wie es auch in Nordamerika weit verbreitet ist und bis nach Ostasien hinüberreicht, von wo es wahrscheinlich seinen Ausgang genommen hat; ebenso das »Zwillingsmotiv«, das sich mit auffallend übereinstimmenden Zügen in der Heroensage der verschiedensten amerikanischen Stämme findet.

Neben dem Humor, der die Freude des Indianers an drastisch-komischen Situationen zum Ausdruck bringt, geht eine blühende Phantasie, die sich vielfach ins Groteske, bisweilen ins Unheimliche steigert, besonders bei den Märchen, die offenbar aus Fieberträumen entstanden sind. Indessen geben die folgenden Erzählungen beim Lesen nur einen matten Abglanz ihrer urwüchsigen Schönheit. Man muß die Leute hören, wie sie am Lagerfeuer ihre Stammesgeschichten erzählen, auf die sie so stolz sind, wie sich ihre Darstellung häufig zu dramatischem Schwung erhebt; man muß sie sehen, wie sie bei spannenden Stellen plötzlich, lebhaft gestikulierend, aufspringen und, vor Aufregung zitternd, dastehen, während der Schein des Feuers über ihre schönen, rötlich strahlenden Körper spielt.


Stuttgart, im Juni 1919

Theodor Koch-Grünberg[4]

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927.
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