11. Der Zwerghirsch, der Tiger und der Brunnen

[48] Der Zwerghirsch war weiter gelaufen, bis er an einen Brunnen kam, der gerade trocken war. Er sprang hinein und tat so, als ob er schliefe.

Es dauerte auch nicht lange, da kam der Tiger. Er fragte:

»Zwerghirsch, was machst du dort unten? Bist du nicht bange, dort umzukommen?«

»Wie magst du nur so etwas fragen! Weißt du denn nicht, daß morgen das Jüngste Gericht abgehalten wird? Alles wird dabei von unterst zu oberst gekehrt. Wenn du heute in der Grube sitzst, kommst du morgen nach oben, und die oben sind, die kommen unter die Welt zu liegen.«

»Ist das wahr?«

»Ja, gewiß ist es wahr, und wenn du es nicht glauben willst, dann kannst du es morgen früh um acht Uhr selber sehen, wenn das Jüngste Gericht beginnt.«

Der Tiger glaubte es und ließ sich nach unten gleiten. Unten fragte er den Zwerghirsch, ob es ihm auch angenehm wäre, wenn er unten bliebe.

»Ja, mir ist's einerlei, wir haben hier genug Platz.«

[48] Einen Augenblick später stieg der Zwerghirsch auf den Rücken des Tigers. Der begriff nicht, was der Zwerghirsch im Sinne hatte und ließ ihn gewähren. Der machte einen Satz nach oben und war aus dem Brunnen heraus. Da begann der Tiger zu rasen.

»Ja,« sagte der Zwerghirsch, »solch' großer Kerl wie du kann mich nicht überlisten, aber ein kleiner Wicht wie ich, der kann es.« Sprach's und verschwand.

Der Tiger machte vergebliche Anstrengungen, um herauszukommen, es gelang ihm nicht, und so mußte er elendiglich umkommen.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 48-49.
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