8. Der Zwerghirsch und der Tiger

[45] Ehemals waren der Tiger und der Zwerghirsch gute Freunde gewesen. Dann entzweiten sie sich. Das geschah auf folgende Weise.

Das Wochenbett der Frau Zwerghirsch war zu Ende. Und so ließen sie ihr Kind zu Hause, als sie in den Busch liefen, um sich etwas zum Futtern zu suchen. Da erschien der Tiger und fraß das Kleine des Zwerghirsches auf. Und begab sich wieder in den Wald zurück.

Als der Zwerghirsch und seine Frau nach Hause kamen, fanden sie ihr Kind nicht mehr. Sie durchsuchten das ganze Haus, konnten es aber nirgendwo finden. Da weinten sie. Und der Zwerghirsch sagte zu seiner Frau: »Paß gut aufs Haus auf, ich werde einmal im Walde nachsehen, vielleicht spielt der Kleine dort.«

Darauf ging der Zwerghirsch fort.

Nach einiger Zeit kam der Tiger wieder. Er traf die Frau des Zwerghirsches schlafend. Erschöpft und ermüdet vom Suchen nach ihrem Kinde war sie in tiefen Schlaf versunken und hörte nichts. Der Tiger pißte sie ins linke Auge; darauf entfernte er sich wieder.

Als der Zwerghirsch nach Hause kam, rief er seine Frau; aber er bekam keine Antwort. Er ging an ihr Bett und sah dort das Wasser des Tigers. Er weckte seine Frau und sagte zu ihr: »Warum weinst du denn?« – »Aber ich weine doch nicht!« – »Weshalb ist denn dein Auge naß?« – Frau Zwerghirsch erkannte und roch nun ebenfalls das Wasser des Tigers.

[45] »Ist jemand hier bei dir gewesen?« – »Ich weiß nicht; ich habe geschlafen, ich weiß von nichts.« –

Der Zwerghirsch sagte nun: »Unser Kind hat der Tiger aufgefressen. Wir wollen jetzt lieber keine Freunde mehr sein. Frau, ich gehe noch mal fort und will den Tiger suchen. Paß gut aufs Haus, und wenn er wiederkommt, dann sage ihm nur, daß ich ausgegangen bin, mehr nicht!«

Und der Zwerghirsch ging fort.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 45-46.
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