22. Vom Manne, der Gott versuchte

[85] Es war einmal ein armer Mann, der hieß Sisoro ni ari, der Elende. Er hatte zwei Brüder, die waren sehr reich und feierten darob oft glänzende Feste. Weil er nun gar so arm war, wurde er Gott gram. Er baute sich auf Bambuspfählen ein hohes Wachthäuschen und beschoß von dort aus mit seinem Blasrohr Gott in der Höhe. Gleichzeitig hielt er ihm die heftigsten Drohreden und sagte: »Weshalb hast du mich so arm gemacht und meine Brüder so reich?« Schließlich hörte Gott ihn und sandte ihm eine Herde Büffel unter das Wachthäuschen. Als Sisoro die Büffel erblickte sagte er: »Der Hundekerl, dem diese Büffel gehören, will mich wohl verhöhnen, wenn er mir hier seine Büffel unter mein Häuschen schickt!« Sprachs und hieb mit einem Knüppel auf die Büffel ein, daß sie fortrannten. Er ging also leer aus.

Nun sandte Gott ihm ein großes Goldstück und legte es oben auf das Häuschen. Als er das sah, sagte er: »Du Hund, ich wünschte, daß du umkämst! Weshalb mußt du dir auch gerade mein Häuschen aussuchen.« Und er fuhr fort Gott zu beschießen.

Darauf ließ Gott von oben ein Rotangseil herab, damit er daran nach oben in den Himmel klettern könnte. Und als Sisoro im Himmel ankam, sprach Gott zu ihm: »Immerfort mußt du wegen deiner Armut gegen mich murren. Ich werde dich jetzt umgießen, und dann wähle dir deinen Anteil. Du wirst sehen, daß dein tondi sich Armut erwählte.« Und damit [85] schmolz der große Gott Mula djadi ihn in einer eisernen Pfanne ein, um die er dann Kleider, prächtige Gewänder aus Seide und elende Lumpen ausbreitete. Darauf sprach Gott zu ihm: »Nun wähle dir dein Teil!« Sogleich sprang Sisoro ni ari aus der Pfanne heraus und auf die Lumpen zu; sein tondi hatte die Lumpen gewählt. Nun sagte Gott zu ihm: »Ich habe dir jetzt vielerlei gezeigt, du wähltest aber die Lumpen. Dein tondi fordert die Lumpen, also soll Armut dein Los sein. Murre fortan nicht mehr darüber.« Und er fuhr weiter fort: »Aber eins will ich dir noch sagen: Hier, nimm diese kleine Bartzange, halte sie in Ehren, du wirst deinen Gewinn davon haben! Aber verachte mir nicht ärmlich gekleidete Leute.« Darauf ließ er ihn an dem Rotangseile wieder auf die Erde hinab. Nach einiger Weile überraschte ihn einmal sein Oheim, wie er sich gerade mit der Zange beschäftigte, und er sagte: »Bitte, zwicke mir doch auch meinen Bart!« Sisoro tat es. Als seine Brüder das sahen, sprachen sie zu ihrem Oheim: »Hör einmal! Unser Bruder ist zwar arm, trotzdem durftest du nicht von ihm verlangen, daß er dir den Bart zwickte. Das gehört sich nicht, du darfst ihn nicht so verhöhnen, und so sollst du ihm eine Buße zahlen.« Und sie verlangten von ihm, daß er von jeder Art Vieh dem Sisoro ein Paar gab. Da wurde Sisoro reich, denn das Vieh vermehrte sich.

Als er nun reich war, wollte Gott ihn versuchen und sandte ihm drei Leute in ärmlicher Kleidung. Die sollte er beherbergen. Sisoro schaute sich nach Zuspeise für seine Gäste um. Er sah nach seinen Schweinen. Es war eine gerade Zahl. »Die kann ich nicht nehmen,« dachte er, »denn es ist eine gerade Zahl, ja wenn es eine ungerade Zahl wäre!« Er sah nach seinen Ziegen, Hunden, Hühnern; stets ergab es eine gerade Zahl. So nahm er nichts davon. Zuletzt schaute er nach den Katzen. Die waren in ungerader Zahl vorhanden. So nahm er denn eine Katze und richtete sie für seine Gäste her – was sich ganz und gar nicht schickte. Als das Essen fertig war, rief er die Gäste ins Haus. Die aßen aber nichts von dem Fleisch, sondern sprachen: »Fleisch, bist du vom Büffel, dann brülle, [86] bist du von der Kuh, dann brumme, bist du vom Schwein, dann grunze, bist du vom Huhn, dann krähe und bist du von der Katze, dann miaue!« Kaum hatten sie das gesagt, da sprang das Fleisch auch schon aus der Schüssel heraus, und eine Menge Katzen liefen im Hause herum, denn jedes Fleischstückchen war zu einer Katze geworden. Sisoro erschrak, und die Gäste waren verschwunden.

Von da an ging es mit ihm zurück. Sein Vieh starb dahin, sein Geld verlor sich, und er wurde wieder ein ganz armer Mann.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 85-87.
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