Die Bärenprinzessin

Die Bärenprinzessin.

[81] Eine arme Witwe hatte eine Tochter. Redlich plagte sie sich ab, um sie großzuziehen. Bald wurde aus dem stillen Kinde eine feine, bleiche Jungfrau mit langen, glitzernden, feuerroten Haaren, deretwegen sie »Flammenhaar« genannt wurde. Ihre schwarzen Augenbrauen bildeten einen einzigen langen Bogen; ihre Augen jedoch hatte noch niemand gesehen, da sie sie stets niederschlug. Schamhaftigkeit ist die beste Zier eines Mädchens, und da Flammenhaar auch dieser nicht entbehrte, so war sie die Schönste weit und breit. Kaum zwölf Sommer alt, hatte sie schon viele Freier; aber sie mochte keinen, sprach selten ein Wort und blickte stets nur vor sich hin.

Da wurde die Witwe recht böse und schalt ihre Tochter: »Du bist jetzt erwachsen, und ich habe es satt für dich zu sorgen. Wähle daher einen deiner Freier. Ist dir aber keiner recht, so gehe in den Wald und heirate einen Bären. Du magst dann[82] Bärenkönigin werden. Bis dahin jedoch mache, daß du ins Holz kommst und arbeite tüchtig.«

Die bleiche Jungfrau schwieg und ging in den Wald um dürres Holz zu suchen. Dabei verirrte sie sich und fand keinen Ausweg mehr aus dem wilden Gebirge. Traurig setzte sie sich auf eine Waldblöße und gedachte der harten Worte der Mutter; dabei spielten die Sonnenstrahlen mit dem wehenden Feuerhaare, das wie eine brennende Fackel in das Waldesdunkel hineinleuchtete. Da fühlte sie sich plötzlich weich umarmt, und aufblickend sah sie sich in der Gewalt eines mächtigen Bären, der ein winziges Krönlein ober der breiten Stirne trug. Er sah sie freundlich mit menschlich klugen Augen an, hob sie sacht auf und trug sie in seine Höhle, wo er die Müde auf ein Lager von weichem Moos bettete. Dann ging er fort, um Obst und Honig für sie zu holen, schob jedoch vorher einen Felsblock vor den Eingang, damit sie nicht entwiche. Aber sie dachte gar nicht daran, sondern saß still und ruhig da, als ob sich jetzt ihr Schicksal erfüllt hätte. Allmälig lernte sie das Gebrumme des Bären als dessen Sprache verstehen, und er lehrte sie vieles, was nur die Waldestiere wissen und das den Menschen wie Zauber erscheint.

So wurde sie die Frau des Bärenkönigs nach der Mutter Wort. Und nach einiger Zeit bekam sie ein wunderliebliches, kleines Töchterlein mit Goldhaaren und den hellen, klugen Augen des Bärenkönigs. Dieser blickte das Kind traurig an und sagte zu seiner Frau: »Jetzt ist es vorbei, jetzt muß ich sterben. Hättest du mir einen Sohn geboren, so wäre er mir an Gestalt ähnlich geworden und hätte mein Reich nach mir geerbt. Aber ein[83] menschliches Wesen kann das Bärenreich nicht regieren, und meine Tochter wird daher in einem Reiche von Menschen Königin werden. Verbirg sie gut vor meinem Nachfolger, denn jeder Bärenkönig darf nur ein menschliches Wesen freien; nimmt er aber eines Bärenkönigs Tochter und schenkt sie ihm keinen Sohn, so muß sie dann selbst sterben. Und so gehe ich denn von euch für immer.«

Er nahm Abschied von der bleichen Frau und legte sein Krönlein dem Kinde in die Wiege. Dann kamen auch schon in unabsehbarer Reihe die Bären des Reiches daher, setzten ihn auf einen aus Zwergkiefern geflochtenen Thronsessel und trugen ihn feierlich zu einer Felsspalte, die tief hinein in das Berginnere führte. Der Bärenkönig blickte noch einmal um sich; dann schritt er stumm hinein in das Dunkel. Vor dem Felsspalt häuften sie gewaltige Steine übereinander, und er war begraben, noch bevor er tot war. Denn die Waldestiere verbergen stets ihr Sterben.

Die Witwe des Bärenkönigs tat allen Schmuck ab und hüllte sich in weiße Gewänder, die ihre feurigen Locken ganz verbargen. Still lebte sie in der Höhle weiter und pflegte ihr Töchterlein, das rasch zu einem schönen Mädchen aufwuchs. Sie verbarg es sorgfältig, und mußte sie zuweilen tiefer in den Wald hineingehen, um Obst und anderes zu holen, so verwandelte sie das Mädchen in eine Kröte und hieß auch diese unter einem Steine sich verstecken.

Während nun die Tochter des Bärenkönigs in der Waldhöhle heranblüte, wuchsen dem Könige, dem das ganze Land gehörte, auch drei Söhne heran. Da wurde eines Tages die[84] Königin schwer krank. Sie rief ihren Gemahl an ihr Lager und sagte ihm: »Ich bitte dich beim heiligen Gotte, verheirate den ältesten deiner Söhne nicht eher, als bis auch die beiden jüngeren so alt sind, um sich ein Weib nehmen zu können. Dann lasse alle drei auf einmal Hochzeit machen. Wenn du diesen meinen Willen nicht erfüllen willst, so will ich dich auch nicht segnen.«

Mit diesen Worten verschied sie. – Der König nahm sich vor, nach ihrem Willen zu handeln, und als auch der jüngste Sohn heiratsfähig war, berief er alle drei zu sich und sprach zu ihnen: »Ihr seid nunmehr erwachsen, und es ist der Wille eurer verstorbenen Mutter, daß ihr euch gleichzeitig vermählt. Gehet also hinauf auf den alten Turm unserer Burg, und der älteste möge dort ein Brett aus dem schwarzen Dache heben. Aus diesem Brette schnitzet drei gleiche Bogen und drei gleiche Pfeile, und schießet diese durch die Lücke im Dache ab. Wo eure Pfeile niederfallen, dort werdet ihr eure Frauen finden. Also geht und lasset sehen, welcherart euer Glück ist.«

Die Söhne folgten dem Rate des Vaters und schossen nacheinander ihre Pfeile ab. Die der beiden älteren flogen in die Königsschlösser von zwei Nachbarreichen; der Pfeil des jüngsten aber verschwand in einem großen Walde. Da ging der König hin und freite zwei Töchter der Nachbarkönige für seine älteren Söhne; zu seinem jüngsten aber sagte er: »Gehe du nur selbst in den Wald und such' dir dein Glück.«

Der junge Prinz schnürte also sein Ränzel und ging in den Wald. Drei lange Tage suchte er kreuz und quer vergeblich nach einem Zeichen; das Brot in seinem Rucksack war zu Ende, und er war müde und hungrig. Er schämte sich, unverrichteter Sacheheim zu kommen, sonst wäre er gleich umgekehrt. Und wie er so nachsann, was nun zu tun wäre, da sah er oben in einem Fichtenbaum seinen Pfeil stecken, dessen Schaft mit einem goldgestickten Freierstüchlein umwunden war. Er blickte um sich, ob nicht ein Haus in der Nähe wäre. Da bemerkte er, daß die Fichte vor dem Eingang zu einer Höhle stand. Der Platz davor war sauber gekehrt, und drinnen fand er den Herd und das Geschirr in Ordnung; aber es war kein Mensch zu sehen.
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Die Bärenprinzessin

Er suchte nun draußen umher und sah dabei im Grase eine große Kröte. Schon hob er den Fuß, um sie zu zertreten, da sagte eine feine Stimme: »Tue mir nichts zuleide, denn ich bin dein Glück.«

Zuerst erschrak er, aber dann faßte er sich und sagte: »Wenn du wirklich mein Glück bist, so mußt du mit mir kommen!« Darauf hob er die Kröte auf, steckte sie in den Rucksack und trug sie heim. Zu Hause hatte er ein Zimmer für sich, und dort tat er die Kröte in einen Wandschrank und erzählte niemandem von seinem Erlebnis. Doch der alte König mußte etwas bemerkt haben, denn er sagte zornig zu seinem Jüngsten: »Ist wohl was Rechtes, dieses dein Glück!« Traurig antwortete der Sohn: »Ich will meinen Brüdern nicht im Wege stehen; sie mögen Hochzeit machen, und der Mutter Fluch will ich auf mich nehmen.« Trotzdem gedachte der König noch eine Weile zu warten.

Da ereignete es sich, daß der jüngste Prinz niemals etwas Ordentliches zu essen bekam. Der Koch stellte ihm das Mittag- und Nachtmahl immer in sein Zimmer, aber bis der Prinz dazukam und essen wollte, war alles durcheinander geworfen, und die Hälfte fehlte. Der Prinz schalt nun den Koch: »Worin bin ich[87] schlechter, als meine Brüder, daß ihr mich so nachlässig bedient?« Als nun der Koch sagte, er bereite das Essen so sorgfältig wie zuvor, hieß ihn der Prinz vor seinen Augen die Speisen bereiten, auf das Zimmer tragen, und hierauf sofort das Zimmer verlassen. Der Koch tat so. Der Prinz wartete noch eine Weile vor der Stubentüre und trat dann unvermutet ein. Da saß vor dem Speiseschemel ein schönes Mädchen mit einem Krönlein auf den Goldhaaren und leerte eine Schüssel nach der andern. Erschrocken sprang sie auf und wollte sich in den Wandschrank verstecken; er aber kam ihr zuvor, öffnete den Schrank und fand darin eine Krötenhaut, die er ins Feuer warf. »Jao! jao!« jammerte sie und schlug sich auf die Kniee, »ich muß nun für ewig in dieser Gestalt bleiben.« – »So ist es mir auch ganz recht«, meinte der Prinz. Darauf erzählte sie ihm, sie sei die Bärenprinzessin, und er nahm sie an der Hand und führte sie zu seinem Vater. Dieser dachte lange nach, was er nun tun solle. Dann schickte er einen Zug von Hochzeitsgästen nach den beiden Königstöchtern. Als sie ankamen, sagte er, daß nun Hochzeit gemacht werden solle; vorher aber möchten sich alle drei zu einem Mahle niedersetzen. Das taten sie denn auch, und er sah, wie die beiden Königstöchter immer einen Bissen in der Kehle, einen zwischen den Zähnen und einen zwischen den Fingern hatten, und als sie aufstanden, schüttelten sie die Brotkrumen aus ihrem Schoß auf den Teppich. Die Bärenprinzessin dagegen schluckte immer einen Bissen hinunter, bevor sie den andern nahm, und als sie aufstand, schüttelte sie von ihren Kleidern die Krumen auf einen Teller, wobei sie sich in Dukaten verwandelten.[88]

Da dachte der König: »So etwas kann man immer brauchen«, und verlangte von seinem jüngsten Sohne, er möge ihm das Mädchen überlassen, er wolle es selbst heiraten. Als der Prinz davon nichts hören wollte, sagte der König: »Gut, aber dann muß sie aus einem einzigen Stück Stoff für alle meine Soldaten Kleider nähen, oder auch du darfst sie nicht heiraten.« Der Prinz weinte bitterlich, und als ihn die Bärenprinzessin nach dem Grunde fragte, klagte er: »Mein Vater hat ein hartes Wort gesprochen,« und erzählte ihr dann alles. Da lachte sie und sagte: »Gehe du dorthin, wo du mich fandest, und rufe dreimal vor der Höhle: ›Flammenhaar erscheine!‹ Dann wird meine Mutter kommen und du sagst ihr: ›Deine Tochter grüßt dich und du mögest ihr für eine Weile das Stück Stoff schicken, aus dem du immer deine Kleider nähest!‹« Der Prinz tat wie das Mädchen sagte, und als er dreimal gerufen: »Flammenhaar erscheine!«, da erschien die bleiche Frau in den weißen Gewändern und sagte leise: »Was wünschest du, Schwiegersohn?« worauf er ihr sagte, was ihn hergeführt. Sie gab ihm das Verlangte, ließ die Tochter grüßen und verschwand wie ein Nebelstreif. – Die Bärenprinzessin nähte nun aus dem kleinen Stoffende Kleider für das ganze Heer, und es blieb noch so viel übrig, als früher da war. Der König dachte: »So etwas kann man immer brauchen«, sperrte sich in sein Zimmer, um zu überlegen, und schließlich sprach er zu seinem Sohne: »Du mußt mir doch das Mädchen geben, oder sie möge in einem einzigen Kessel soviel Maisbrei kochen, daß mein ganzes Heer davon satt wird.« – Da weinte der Prinz abermals und sagte zu der Bärenprinzessin: »Mein Vater hat ein hartes Wort gesprochen, und jetzt werden wir[89] wohl nicht wissen was tun.« Doch sie lachte auch jetzt und schickte ihn nochmals zu ihrer Mutter. Er rief also vor der Höhle wieder dreimal: »Flammenhaar erscheine!«, und die bleiche Frau kam heraus, gab ihm den kleinen Kessel, in dem sie immer den Mundvorrat kochte, grüßte ihre Tochter und verschwand. Und die Bärenprinzessin kochte in dem kleinen Kessel für das ganze Heer Maisbrei und es blieb noch genug übrig.

Der Kessel gefiel dem König ganz besonders. Er dachte eine Woche lang nach und meinte dann: »So etwas kann man wirklich immer brauchen.« Darnach sprach er zu seinem Sohne: »Ich muß das Mädchen allen Ernstes haben und will sie nur freigeben, wenn sie mir den Ring wiederbringt, den meine Frau, die Königin, in jene Welt mitgenommen hat.« Der Prinz jammerte laut auf: »Ach, was soll mir mein ganzes Leben!«, und auch die Bärenprinzessin lachte nicht, sondern sagte nur: »Gehe noch einmal zu meiner Mutter und bitte sie, daß sie uns zu dem Ring verhilft, wenn sie es vermag, oder sie soll für ihr Kind anders Rat schaffen.« Und so ging der Prinz wieder zu der Felsenhöhle im Walde und rief nach Flammenhaar. Als er der bleichen Frau alles berichtet, sagte sie: »Fasse mich am Saum meines Gewandes und folge mir ohne dich umzublicken, oder den Kopf zu wenden.« So schritten sie durch die Höhle. Dann öffnete sich ein Weg, der weiter durch die Erde führte. Sie kamen durch grünlich und bläulich glitzernde Felsengewölbe, in denen sie schreckliche Dinge sahen. Da kroch eine ekle Schlange aus einer Ecke in die andere und trank gierig Eier aus. »Das ist«, flüsterte die bleiche Frau, »ein Mädchen, das ihrer Mutter aus der Speisekammer Eier stahl und austrank. Deshalb hat sie[90] der liebe Gott in eine Schlange verwandelt und sie muß bis zum jüngsten Gericht Eier stehlen.« Dann sahen sie einen Mann und ein Weib mit den Füßen nach oben von der Decke hängen, die unaufhörlich mit ihren Rücken gegeneinander schlugen, daß es nur so dröhnte. »Das ist ein Ehepaar, das sich auf Erden miteinander nicht vertrug,« erklärte die bleiche Frau. Weiter sahen sie ein aufgehängtes kleines Kind, von welchem Blut herunter troff, das eine schwarze Hündin aufleckte. »Diese Hündin ist ein unseliges Weib, das ihr eigenes Kind erwürgte,« erklärte Flammenhaar. Dann kamen sie an zwei Männern vorüber, die an Bratspießen staken: unter ihnen brannte ein Feuer, so groß wie in einem Kalkofen, und indem sie einander gegenseitig drehten, fragte der eine fortwährend zähneklappernd: »Friert es dich, Kamerad?«, worauf der andere stets antwortete: »Uhuhuhu, es friert mich fürchterlich!« – »Diese beiden haben zu Lebzeiten Einzäunungen und Zaunpfähle gestohlen und sich daran gewärmt.«

Dem Jüngling graute es so, daß es ihm schwer wurde, den Kopf nicht abzuwenden. Deshalb glitt die bleiche Frau rascher dahin, und kaum den Boden berührend folgte er ihr auf eine weite, lichte Fläche, auf welcher in unzähligen großen Cisternen siedendes Wasser brodelte, und in diesen drehten sich jammernde Menschen herum. Bei einer solchen Cisterne hielt die bleiche Frau und sagte: »Dort ist deine Mutter!« Entsetzt blickte er hin und sah wirklich seine Mutter in dem siedenden Wasser. Sie streckte die Hand mit dem Ringe heraus und rief: »Zieh ihn schnell ab, mein Sohn, denn sie lassen mir nicht Zeit! Und dann sage dem Könige, daß ich ihn grüßen lasse, und er möge die[91] dreißig Oka Kirschen bezahlen, die ich schuldig geblieben bin. Wenn es nicht wegen dieser Kirschen ist, so weiß ich nicht, weshalb mich Gott in das Fegfeuer warf!« Dann tauchte sie unter. Der Jüngling ergriff von neuem den Saum des weißen Gewandes und schloß die Augen. Rasch glitten sie denselben Weg zurück und waren bald wieder in der Felshöhle. Dort sagte die bleiche Frau: »Nun trage deinem Vater den Ring hin und sage ihm mit einem Gruß von mir, er möge dir endlich meine Tochter vermählen, sonst wird sich sein Wortbruch rächen.«

Als der Prinz dem König alles berichtet hatte, da erschrack dieser und ließ allsogleich alle seine Untertanen und sein ganzes Heer zusammen rufen. Es wurden auf einer großen Wiese Ochsen und Lämmer am Spieße gebraten, und bis zur Mittagsstunde durften sich alle gütlich tun und nach Herzenslust singen. Dann aber befahlen Ausrufer im Namen des Königs Stillschweigen, und hierauf wurde derjenige aufgerufen, dem die verstorbene Königin dreißig Oka Kirschen schuldig geblieben war. Er möge sich melden, damit die Schuld beglichen werde. Endlich meldete sich ein armer Mann. Er wurde vor den König geführt, dieser zog dreißig Dukaten heraus und sagte: »Da nimm das mit Dank und Segen!« Der Mann aber entgegnete: »Mächtiger König, ich nehme nicht mehr als dreißig Heller, soviel wie ich mit der Königin ausgemacht habe.« Der König gab ihm nun dreißig Heller und sagte: »Ich bitte dich wie meinen leiblichen Bruder, segne nun ihr Andenken.« Und der Mann erwiderte: »Hätte ich das gewußt, ich hätte sie trotzdem hundertmal im Tage gesegnet. Möge ihre gute Seele alle Freuden des Paradieses schauen!«[92]

Der König und das Volk beteten hierauf und dann ging jeder still nach Hause. Zehn lange Tage sperrte sich der König in sein Zimmer ein, um nachzudenken. Dann eröffnete er seinem jüngsten, daß er der Bärenprinzessin entsage, und daß nun alle drei Brüder Hochzeit machen mögen. Doch der Prinz war traurig und entgegnete, er wolle vorher noch nach der Mutter sehen, wie es ihr gehe. Er hing also wieder den Rucksack um, ging in den Wald zur Felsenhöhle und rief dort dreimal: »Flammenhaar erscheine!« Da trat wieder die bleiche Frau heraus, und er erzählte ihr seinen Kummer. Sie antwortete ihm gütig: »Halte dich nur an den Saum meines Gewandes, Schwiegersohn, und du sollst deine Mutter sehen.« Und wieder glitten sie dahin durch die Höhle, durch das Erdreich und über die weite Fläche mit den dampfenden Zisternen, dann kamen sie an einen großen See von siedendem Wasser und flüssigen Steinen. Die bleiche Frau streckte die Hand aus, in der sie einen goldenen Stab hielt, und über dem See erstand eine hohe Brücke. Sie schwebten hinüber an das andere Ufer, und dort prangte eine gewaltige, herrliche Burg. Flammenhaar winkte nochmals mit dem goldenen Stabe, und das Tor sprang auf. »Weiter dürfen mir nicht,« sagte sie, »aber du kannst von hier deine Mutter sehen, die jetzt mit den übrigen frommen Seelen ein Loblied Gottes singt.« Aber da kam schon die Königin auf ihren Sohn zu, in einem Gewande wie aus Mondschein gewoben, und ringsum war alles Duft und Licht und Seligkeit. »Habe Dank, mein Sohn!« sagte die Erlöste, »grüße meinen Herrn König und sage ihm, daß meine Seele in demselben Augenblicke in das Paradies flog, wie er die dreißig Oka[93] Kirschen bezahlte. Ich segne ihn, und er möge meine Schwiegertochter von Herzen ehren und lieben.«

Der junge Prinz kehrte nun nach Hause zurück, und die Hochzeit der drei Brüder wurde mit großem Glanze gefeiert. Hernach sagte der König zu der Jüngsten: »Höre, meine liebe Schwiegertochter! Ich will, daß jetzt du in meinem Reiche regierst.« Sie erwiderte: »Wie kann ich das, lieber Vater? Ich habe nur einen Weiberkopf. Regiere du nur weiter, wie bisher.« Er aber sagte: »Man frägt nicht, wer den Kopf trägt, wenn man mit dem, was dieser Kopf ausdenkt, zufrieden ist! Der Erfolg richtet! Also regiere jetzt ein Jahr lang, und dann wollen wir weiter sehen.«

Die Bärenprinzessin regierte also wirklich das Land ein volles Jahr lang ganz allein und eroberte in dieser Zeit zwei große Reiche, so daß jeder der drei Brüder König werden konnte. Und damit waren alle sehr zufrieden, und wir sind es mit dieser Geschichte auch.


Die Bärenprinzessin
Quelle:
Preindlsberger-Mrazovic, Milena: Bosnische Volksmärchen. Innsbruck: A. Edlinger, 1905, S. 81-94.
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