8. Kaiser Konstantins Schatz, oder:
Das Auge des Menschen ist unersättlich

[30] Es waren einmal ein Vater und ein Sohn; die hatten einen Acker mit Weizen besät; da kamen Sperlinge geflogen und pickten den Samen weg. Der Vater schickte den Sohn auf den Acker, um ihn vor den Sperlingen zu hüten. Der Sohn ging auch einige Tage nach der Reife dahin und paßte auf, aber zuletzt wollte er nicht mehr gehen. Der Vater versuchte mit aller Gewalt, ihn anzutreiben, daß er ginge, aber er ging nicht. Endlich gerieten Vater und Sohn in Streit und Schlägerei, der Sohn nahm einen Stein und verwundete seinen Vater am Kopf. Der ging und klagte vor Gericht. Der Richter ließ den Sohn rufen und fragte ihn, warum er seinen Vater verwundet habe. Der antwortete: »Weil er mich auf den Acker schickte, um ihn gegen die Sperlinge zu hüten. Ich bin auch ein-, zweimal gegangen und habe aufgepaßt; aber da ich einmal den großen Sperling seinen Sperlingsjungen sagen hörte: pickt nur die Körner, die nicht aufgehen, bin ich den nächsten Tag, als mich der Vater wieder schicken wollte, nicht gegangen; deswegen prügelte mich der Vater, und ich habe ihn am Kopf verwundet.«

Da sagten der Richter und der Zar zu ihm: »Na! wenn du verstehst, was die Sperlinge reden, dann mußt du auch wissen, wo der Schatz des Kaisers Konstantin ist«. Er antwortete, er wisse nichts anderes, als was er ihnen gesagt habe, und schwur darauf; sie glaubten ihm aber nicht, setzten ihm weiter zu, und endlich gab er nach und sagte ja.

Darauf bat er sie um drei Tage Bedenkzeit; die gewährten sie ihm; nach den drei Tagen ließen sie ihn wieder rufen, und er sagte dann zu dem Zaren: »Bringt mir fünfhundert[30] Pferde, tausend Kühe und dreihundert Schafe, häutet sie ab und bringt sie an den und den Ort im Gebirge.« Der Zar befahl sogleich, daß ihm dieser Wunsch erfüllt werde, und das geschah ohne Zögern. Dann forderte er noch, daß man an denselben Ort auch andere Nahrungsmittel bringen sollte und ein Schutzdach zur Wohnung für ihn auf sechs Wochen, denn er wollte so lange dort leben und aufpassen. Er saß nun dort einige Zeit Tag und Nacht, und allerlei Tiere kamen und fraßen von dem Pferde-, Kuh- und Schaffleisch; er aber saß verborgen und hörte zu, was die Tiere miteinander sprachen. Sie fraßen so lange, bis alles Fleisch aufgefressen war und nur noch Knochen übrig waren. Bis zum letzten Abend vor Ende der sechs Wochen hatte er nichts erfahren. Aber am nächsten Morgen früh kamen die Königsadler, pickten an den Knochen herum und sprachen untereinander; dabei fragten sie, wer von den dreien der älteste wäre und sich an eine alte Begebenheit erinnern könnte. Der älteste Adler sagte: »Ich kann mich erinnern, als ich ein kleines Kind war, fiel einmal Schnee bis an den Gürtel.« – »Und ich«, sagte der zweite, »kann mich erinnern, wie zu meiner Zeit eine große Hungersnot war und viele Menschen Hungers starben.« – »Und ich«, sagte der dritte, »kann mich erinnern, zu meiner Zeit, als ich ein Kind war, wurde der Schatz des Kaisers Konstantin vergraben.« – »Also bist du der älteste von allen«, antworteten ihm die beiden andern Adler. – »Da, unter der Steinplatte dort,« fuhr der dritte fort, »sind dreihundert Lasten Gold vergraben.« Der verborgene Mann hörte das Gespräch der Adler und verhielt sich ganz still.

Am nächsten Morgen kamen die Leute des Zaren, ihn zu rufen: »Komm, der Zar läßt dich rufen.« Darauf antwortete er: »Sagt dem Zaren, er soll dreihundert Maultiere und sechshundert Säcke schicken.« Die Boten kehrten zum Zaren zurück und richteten ihm aus, was ihnen der Mann befohlen hatte. Der Zar befahl sogleich, ihm die gewünschten Maultiere und Säcke zu schicken, und es sollten viele von[31] seinen Leuten mitgehen, ihm zu helfen. Als die Leute bei dem Manne angekommen waren, sagte er zu ihnen: »Hebt die Platte da auf.« Das taten sie und was sahen sie? Einen Brunnen voll Gold. Sie schöpften und schöpften und füllten genau sechshundert Säcke voll, luden sie auf die Maultiere und brachten sie dem Zaren, aber so heimlich, daß es niemand anders erfuhr außer den vom Zaren gesandten Leuten; dem aber, der das Gold gefunden hatte, gaben sie nicht einen roten Heller, ja kümmerten sich weiter nicht um ihn. Der Arme wartete und wartete, daß der Zar ihn rufen und ihm etwas geben sollte, aber sein Warten war ganz vergebens, der Zar hatte ihn schon ganz vergessen. Zuletzt, als ihm das Warten zu lange wurde, schickte er seinen Vater zum Zaren, um wenigstens eine Mütze voll Gold von ihm zu verlangen. Der Vater ging also zu dem Zaren und sagte: »Erhabener Zar, mein Sohn schickt mich, du möchtest ihm eine Mütze voll Gold geben.« – »Was für ein Sohn?« fragte der Zar. – »Na der, der dir den Schatz gefunden hat«, antwortete der Vater. Der Zar aber rief: »Mach, daß du von hier fortkommst! Was für ein Schatz? Wer hat einen Schatz gefunden?« Der Zar hatte nämlich Angst, es könnte einer erfahren; ein anderer Zar, der damals lebte, größer und stärker als er, könnte davon hören. Am anderen Tage schickte der Sohn wieder seinen Vater zum Zaren, eine Mütze voll Gold zu fordern; da aber hielten ihn die Leute des Zaren auf seinen Befehl an und schlugen ihm den Kopf ab.

Als der Sohn hörte, daß man seinen Vater getötet hatte, ging er selbst zum Zaren und sagte zu ihm: »Erhabener Zar, der und der Zar« (nämlich der, vor dem er Angst hatte), »läßt dich vielmals grüßen, du solltest mir meinen Vater wiedergeben, aber er will ihn lebend und gesund; oder aber, wenn du willst, töte auch mich; nur glaube nicht, daß es so geht wie bei meinem Vater; ich bin von einem größern Zaren gesandt. Also merke dir, daß ich meinen Vater lebendig wieder haben will.« Da standen der Zar und seine Leute in Bedenken, was sie nun machen sollten: der Mann, der[32] Vater, ist tot, und sein Sohn will ihn lebendig haben; endlich sagten sie zu ihm: »Warte, wir wollen sehen, was das Gesetz sagt; der Mann ist tot und kann nicht wieder lebendig werden.« Im Gesetz fanden sie geschrieben: soviel der Kopf des getöteten Mannes wiegt, so viel Gold soll dem Sohne, der klagt, gegeben werden. Damit gab der sich zufrieden.

Gut, sie legten nun den Kopf in eine Wagschale und in die andre, sagen wir, ein Kilo Gold. Aber die Schale mit dem Kopf kam nicht in die Höhe; sie verdoppelten und verdreifachten das Gold, aber die Schale wollte nicht hoch kommen, der Kopf war schwerer. Da legten sie fünfzigmal, hundertmal, tausendmal soviel Gold darauf, aber die Schale mit dem Kopf stieg nicht in die Höhe. Alle wunderten sich, was das zu bedeuten habe. Sie legten nun das ganze gefundene Gold, die dreihundert Lasten dazu, aber die Schale mit dem Kopf blieb stehen. Wieder wunderten sich alle, was aus dieser so sonderbaren Sache werden sollte. Es kamen nun gelehrte und belesene, weise und kluge Leute zusammen, um herauszufinden, warum die Wagschale mit dem Kopfe nicht aufsteige; aber sie konnten es nicht herausbringen.

Da sagte der selbst, der den Schatz gefunden hatte und seinen Vater lebendig wieder haben wollte, zu ihnen: »Ich will euch zeigen, weshalb der Kopf nicht hoch kommt.« Einstimmig riefen alle: »Wenn du auch das noch triffst, dann wollen wir dich von jetzt an zum Zaren haben«; und auch der Zar selbst sagte: »Ich steige von jetzt an vom Throne, und du sollst dich darauf setzen, wenn du es triffst.« Der Mann aber sagte: »Bringt mir ein Tuch!« Als sie es ihm gebracht hatten, verband er dem Totenkopf die Augen damit und sagte zu ihnen: »Wägt jetzt!« Sie legten ihn nun auf die Wagschale, und zwei Kilo reichten aus. – »Wie kommt es,« fragten sie, »daß der Kopf sich gegen zwei Kilo hebt?« – »Das kommt daher,« antwortete der Mann, »daß er mit offenen Augen sich niemals heben kann, denn solange das Auge sieht, könnt ihr alle Lasten Gold darauf legen, es wird sich nicht heben. So ist es auch mit dir, erhabener Zar, so[33] viele Lasten Gold habe ich dir gegeben, von mir hast du sie bekommen, aber du hast immer noch nicht genug davon, und mir hast du nicht einen roten Heller abgegeben; du willst aber immer noch mehr. So konnte auch die Wagschale mit meines Vaters Kopf, solange er die Augen offen hatte, sich nicht heben; erst zuletzt, als wir sie verbunden hatten, hob die Schale sich gegen nur zwei Kilo. So ist das Auge des Menschen gierig und unersättlich«.

Quelle:
Leskien, August: Balkanmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1915, S. 30-34.
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