Die Rehprinzessin.

[94] Es waren einmal ein Prinz und eine Prinzessin, die einander von klein auf lieb gehabt hatten, und es war auch bestimmt worden, daß sie einander haben sollten, wenn die Prinzessin erwachsen wäre. Sie war erst zwölf Jahre alt, und sie hatte eine Stiefmutter, die eine böse Hexe war und ihr kein Glück gönnte. Sie drohte der Königstochter, daß sie sie verhexen würde, wenn sie ins Brautbett stiege, so daß sie als ein wildes Reh in Wald und Moor umherlaufen müßte. Darüber war die Königstochter sehr traurig, denn sie wollte gern ihren Prinzen haben und seine Frau sein, wenn die Zeit käme. Er wußte nicht, was ihnen bevorstand; sie getraute sich nicht, es ihm zu sagen.

Eines Tages ging die Prinzessin in den Wald hinaus, wo ein Paar arme Leute wohnten, die sie kannte, und die eine Tochter von demselben Alter wie sie hatten. Sie frug dieselben, ob sie ihre Tochter mit nach[95] Haus nehmen dürfe, um sich von ihr hilfreiche Hand leisten zu lassen; sie wolle sie kurze Zeit lang auf Probe haben, und wenn sie mit ihr zufrieden sei, wolle die Prinzessin sie ganz bei sich behalten. Darüber waren die Eltern sehr erfreut, und das Mädchen auch, und sie ging mit nach dem Schlosse. Die Prinzessin behielt sie drei Tage bei sich, und erzählte ihr vielerlei; aber sie sagte dem Mädchen, sie dürfe mit keinem andern davon reden. Am dritten Abend sagte die Königstochter zu ihr, jetzt könne sie nach Hause gehn und ihre Eltern besuchen und die Nacht über dort bleiben. Am nächsten Morgen solle sie zurückkommen, dann werde ihr die Prinzessin sagen, ob sie sie länger behalten wolle. Das Mädchen ging also nach Hause; aber die Prinzessin ging ihr nach und blieb draußen vorm Fenster stehen, um zu hören, ob sie schweigen könne, oder aus der Schule plaudere. Als das Mädchen zu den Eltern hinein kam, gab es ein Fragen nach allem, was sie gesehen und gehört und erlebt und auch was die Königstochter ihr gesagt habe. Und sie polterte mit allem heraus. Da ging die Königstochter nach Hause; die konnte sie nicht brauchen.

Am folgenden Tage ging die Prinzessin hinaus und holte sich ein anderes kleines Mädchen ihres Alters; aber die konnte eben so wenig schweigen; daher mußte [96] sie gleichfalls ihrer Wege ziehn. Und so ging es mit mehreren. Endlich kam sie irgendwo zu sehr armen Leuten und nahm deren Tochter mit heim. Die Eltern ermahnten sie, sich gut zu betragen und sich nicht auf Klatschereien einzulassen; das versprach das Mädchen und ging mit. Nach drei Tagen ließ die Prinzessin sie abends nach Hause gehn, um ihre Eltern bis zum nächsten Tage zu besuchen; und sie ging ihr selber nach und blieb draußen stehn, um zu hören, was sie sprächen. Als das kleine Mädchen in die Hütte kam, frugen ihre Eltern zuerst, ob sie sich gut betragen habe. Ja, das glaube sie wohl. Darauf sagten sie ihr, sie müsse recht anstellig und treu sein, dann werde die Prinzessin sie auch ferner gut behandeln. Dann beteten sie den Abendsegen mit ihr und legten sich alle drei schlafen. Die Königstochter ging nach Hause, und als das Mädchen am andern Morgen wieder kam, sagte sie ihr, sie wolle sie gern behalten. Das arme Mädchen ward jetzt im Königsschlosse erzogen und gemeinsam mit der guten Prinzessin unterrichtet; und sie wurden so recht Herzensfreundinnen. Das Kind der armen Leute wuchs zu einer schönen Jungfrau heran, welche der Königstochter auf ein Haar glich, so daß alle sie verwechselten; und sie gingen auch immer gleich gekleidet.

[97] Als es nun so weit war, daß der Prinz und die Königstochter Hochzeit halten sollten, erzählte sie dem Mädchen, was jetzt geschehen würde, und sie traf mit ihr die Abrede, daß sie in der Nähe sein und zu ihm ins Brautbett springen solle, wenn sie selbst verwandelt würde, damit sie ihn so vor diesem großen Kummer bewahre. Das Mädchen liebte sie innig und frug, ob es gar nicht möglich wäre, sie vor diesem Unglück zu retten; könnte sie nicht statt der Königstochter ein Reh werden? »Nein,« sagte die Prinzessin, »das läßt sich nicht machen; aber die drei ersten Weihnachtsabende um Mitternacht kannst du mich in einer Laubhütte draußen im Walde treffen; denn dann werde ich jedesmal auf eine Stunde ein Mensch. Dann können wir doch so lange mit einander reden.«

Der Hochzeitstag erschien, und die Hochzeit wurde gefeiert, und es ging, wie die böse Stiefmutter gedroht hatte: in demselben Augenblick, als die Königstochter ihren Fuß in das Brautbett setzte, ward sie in ein wildes Reh verwandelt und lief in Wald und Moor hinaus. Aber die Freundin war zur Stelle und nahm ihren Platz an der Seite des Königssohnes ein, und er merkte nichts von dem Tausche. Da bat ihn das Mädchen, welches er für die Prinzessin hielt, er möge sie noch ihr Spieljahr, ihr Mädchenjahr und ihr Spinnjahr[98] Jungfrau bleiben lassen, und das konnte er ihr nicht abschlagen; daher legte er sein Schwert zwischen sie. Kurze Zeit darauf starb der Vater des Prinzen, und er wurde sein Thronfolger, und das Kind der armen Leute war also Königin.

In der ersten Weihnachtsnacht stand die Königin von seiner Seite auf, ohne daß er es merkte, und ging in den Wald zur Laubhütte hinaus, um die rechte Königin zu treffen und mit ihr zu reden. Dasselbe that sie im folgenden Jahre. Aber es gab Leute, welche davon zu sprechen begannen, daß bei der Königin etwas nicht in Richtigkeit sein müsse, da sie sich in jeder Weihnachtsnacht aus dem Schlosse fortstehle. Das kam dem König zu Ohren, und in der dritten Weihnachtsnacht lag er wach und stellte sich nur, als ob er schliefe; und als seine Königin von ihm weggegangen war, folgte er ihr heimlich und kam in den Wald hinaus, und stand draußen vor der Laubhütte, wo sie die rechte Königin traf und mit ihr sprach. Da hörte er seine rechte Königin fragen: »Wie lebt ihr mit einander?« Und die, welche er für seine Königin hielt, antwortete: »Gut, wie Schwester und Bruder. Aber giebt es denn gar kein Mittel, dich zu retten?« – »Nein,« lautete die Antwort, »diese Nacht ist es das letzte Mal, daß ich Menschengestalt erhalte. Es giebt nur ein Mittel [99] zu meiner Rettung, und das ist, wenn ein reiner und unschuldiger Königssohn mich mit seinem Schwerte blutig verwundete; aber er dürfte nicht darum gebeten werden.« In demselben Augenblick ward sie in ein Reh verwandelt und sprang aus der Laubhütte hinaus. Aber der König hatte sein Schwert gezogen, und indem sie an ihm vorüberschoß, stach er nach ihr mit dem Schwerte, so daß ihr Blut floß. Da wurde sie in demselben Augenblick eine so schöne Prinzessin, wie sie jemals gewesen war; und sie gingen nach Hause und lebten viele Jahre glücklich beisammen als König und Königin. Und sie bekamen kleine Prinzen und Prinzessinnen, die ihre Kinder waren. Aber das treue Mädchen blieb alle Zeit bei ihnen, und beide liebten sie wie ihre eigene Seele.

Quelle:
Grundtvig, Svend: Dänische Volksmärchen 2. Leipzig: Joh. Barth, 1879, S. 94-100.
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