[319] 66. König Lear

Bladud hatte einen Sohn namens Leir; nach seines Vaters Hingang waltete er dieses herrlichen Landes sein Leben lang, welches sechzig Winter währte. Nach den Ratschlägen seiner Weisen baute er eine prächtige Burg und ließ sie nach sich selbst benennen. Kaerleir hieß[319] die Burg, die der König sehr liebte, in unsrer Muttersprache nennen wir sie Leicester. In den alten Zeiten war es eine herrliche Burg, aber später überkam sie viel Leid, und sie wurde vernichtet, nachdem ihre Bewohner gefallen waren. Sechzig Winter lang beherrschte Leir dies Land. Der König hatte von seiner edlen Gattin drei Töchter aber keinen Sohn, daher war er bekümmert, wie er sein Land erhalten sollte. Die älteste Tochter hieß Gornoille, die zweite Regau, die dritte Cordoille. Diese war die jüngste Schwester, sie war von großer Schönheit, von höfischen Sitten und ihrem Vater so lieb wie das eigene Leben. Nun ward der König alt und schwach, und er bedachte bei sich, was nach seinem Hinscheiden aus seinem Reiche werden sollte. Er sagte kummervoll zu sich selbst: »Ich will mein Königtum unter meine Töchter verteilen, aber zuerst will ich erproben, welche mich am meisten liebt, und die soll den besten Teil von meinem schönen Lande haben.« So dachte der Edle und handelte danach. Er rief Gornoille, seine liebe Tochter, aus ihrer Kammer und sprach so zu ihr: »Sage mir die Wahrheit, Gornoille; du bist mir sehr teuer, wie teuer bin ich dir? Hältst du mich für wert, mein Königreich zu verwalten?« Gornoille war sehr vorsichtig, wie die Weiber stets sind, und sagte lügnerisch zu ihrem Vater, dem König: »Lieber Vater, so wahr ich Gottes Gnade erwarte, so bist du mir lieber als die ganze strahlende Welt, ja, ich will dir mehr sagen: du bist mir lieber als mein Leben. Das sage ich dir fürwahr und du darfst mir wohl trauen.« Der König Leir glaubte dem Trug seiner Tochter und antwortete: »Ich sage dir, Gornoille, liebe Tochter, groß soll dein Lohn sein für diese Liebe. Ich bin vom Alter sehr geschwächt und du liebst mich sehr, mehr als alles im Leben Ich will mein ganzes schönes Land in drei Teile teilen: dein soll der beste Anteil sein; du bist meine liebste Tochter und sollst den besten Than, den ich in meinem Reiche finden kann, zum Gatten haben.« – Später sprach der König mit seiner zweiten Tochter: »Geliebte Tochter Regau, was sagst du mir zum Trost? Sage mir vor allem Volk, wie lieb ich dir in deinem Herzen bin!« Da antwortete sie mit klugen Worten: »Alles, was es auf der Welt gibt, ist mir nicht halb so teuer, als dein Leben.« Zwar sagte sie nicht mehr Wahrheit als ihre Schwester, aber ihr Vater glaubte ihren Lügen. Zufrieden antwortete der König: »Den dritten Teil meines Landes gebe ich in deine Hand und du sollst einen Gatten nehmen, der dir am besten gefällt.« – Noch wollte der König nicht von seiner Torheit lassen; er bat seine Tochter Cordoille, zu ihm zu kommen. Sie war die jüngste und die[320] wahrhaftigste von allen, und der König liebte sie mehr als die beiden andern. Cordoille hörte die Lügen, die ihre Schwestern dem König sagten, und sie schwur bei sich, daß sie ihren Vater nicht anlügen, sondern ihm die Wahrheit sagen wolle, wäre es ihm lieb oder leid. Da sprach der übel beratene alte Mann: »Ich will von dir hören, meine Tochter Cordoille, wie lieb dir mein Leben ist.« Cordoille antwortete ihrem geliebten Vater laut mit Scherz und Lachen: »Du bist mir lieb, weil du mein Vater bist, und ich dir, weil ich deine Tochter bin. Ich liebe dich treu, weil wir so nahe verwandt sind, und da ich Lohn erwarte, so will ich dir mehr sagen: du bist so viel wert, als du in deiner Gewalt hast, und solange du mächtig bist, werden die Leute dich lieben, denn verhaßt ist der Mann, der wenig besitzt.« So sprach die Jungfrau Cordoille und dann verharrte sie wieder in Schweigen. Dem Könige aber gefielen diese Worte nicht und er ward zornig, denn er wähnte in seinem Herzen, es sei aus Verachtung, daß sie so rede und ihn nicht so achten wolle wie ihre beiden Schwestern, welche alle beide Lügen geredet hatten. Der König Leir wurde so schwarz wie ein schwarzes Tuch, die Farbe seiner Haut verdunkelte sich, denn er war über die Maßen wütend, durch den Zorn war er so betäubt, daß er in Ohnmacht fiel. Dann erhob er sich langsam wieder und brach in böse Worte gegen die erschrockene Jungfrau aus: »Höre, Cordoille, ich will dir meinen Willen sagen: du warst mir die liebste meiner Töchter, jetzt bist du mir die verhaßteste von allen! Nie sollst du einen Anteil an meinem Reiche haben, sondern unter die beiden andern will ich es verteilen, du aber sollst verflucht sein und im Elend leben! Ich wähnte niemals, daß du mich so beschimpfen würdest, deshalb flieh aus meinen Augen, wenn dir dein Leben lieb ist. Deine Schwestern sollen mein ganzes Land erhalten, das ist mein Wille. Der Herzog von Cornwall soll Regau haben und der schottische König die schöne Gornoille, ihnen gebe ich all die Besitztümer, die mir gehören.« Und der alte König tat, wie er gesagt hatte. Oft war der Jungfrau weh, aber nie weher als da. Bekümmert war ihr das Herz wegen ihres Vaters Zorn. Sie ging in ihre Kammer, wo sie lange sorgenvoll saß und heftig seufzte, denn sie hatte ihren lieben Vater nicht belügen wollen. Sie war tief beschämt, weil ihr Vater sie mied, und sie hatte doch den besten Ausspruch getan; nun wartete sie in ihrer Kammer und litt das Herzweh und trauerte tief. Und so stand es eine Weile an. – In Frankreich herrschte ein reicher und kühner König, der hieß Aganippus; er war der edelste seines Volkes und ein[321] junger Mann, aber ihm fehlte eine Gattin. Daher sandte er seine Boten in dieses Land zum König Leir und ließ ihm freundlichen Gruß entbieten. Reisende Männer hätten ihm von der Jungfrau, von ihrer Schönheit und Züchtigkeit erzählt, wie geduldig sie wäre und von welch edlen Sitten, daß kein Weib halb so edel wäre in König Leirs Land. Solches ließ er dem alten König sagen. Dieser bedachte sich, was er tun solle, dann ließ er ein gut abgefaßtes Schreiben aufsetzen und sandte es durch seine Boten in das Land Frankreich. Das Schreiben aber enthielt folgende Worte: »Der König Leir von Britannien grüßt Aganippus, den Edelsten von Frankreich. Deine Großmut und deine schöne Botschaft ehren mich sehr, aber ich tue dir durch dieses mein Schreiben zu wissen, daß ich mein Reich zwiegeteilt und meinen beiden Töchtern gegeben habe, welche mir sehr teuer sind. Ich habe eine dritte Tochter, aber es kümmert mich nicht, wo sie lebt, denn sie verachtete mich und machte mich so zornig, daß sie von meinem ganzen Land und Volk, das ich je besaß oder besitzen mag – das sage ich dir fürwahr – nichts haben soll. Aber wenn du sie gewinnen willst – denn sie ist eine schöne Jungfrau – so will ich sie dir ausliefern und in einem Schiffe zusenden mit dem einzigen Kleide, das sie trägt, mehr bekommt sie nicht. Wenn du sie willst, so will ich so handeln, du weißt nun, warum. Du selbst aber bleibe gesund!« Dies Schreiben kam nach Frankreich zu dem edlen König, der ließ es sich vorlesen und ward froh darüber. Es schmerzte ihn, daß König Leir, ihr Vater, sie ihm vorenthalten wolle, und umso heißer verlangte ihn nach der Magd. Er sagte zu seinen Baronen: »Ich bin reich genug und brauche nichts mehr. Nie soll mir Leir die Jungfrau abschlagen, sondern ich will sie gewinnen als meine Königin. Behalte doch ihr Vater all sein Land und all sein Silber und Gold. Ich frage nicht nach seinen Schätzen, denn mir fehlt nichts als die Jungfrau Cordoille; habe ich sie, so sind alle meine Wünsche erfüllt.« Mit Schreiben und Worten sandte er darauf Boten in dieses Land und bat den König Leir, ihm seine schöne Tochter zu senden, er wolle sie mit allen Ehren aufnehmen. Der alte König nahm die edle Jungfrau mit ihrem einzigen Kleid und ließ sie über die See fahren, ach, ihr Vater war so hart zu ihr! Aganippus, der französische König, empfing die Jungfrau gut, sie gefiel dem ganzen Volke und wurde seine Königin, und so blieb sie dort, von allen geliebt. Und König Leir, ihr Vater, lebte in seinem Lande und hatte seinen beiden Töchtern sein ganzes Reich gegeben. Er gab Gornoille dem schottischen Könige, der Maglaunus hieß und sehr[322] mächtig war, und Cornwalls Herzog gab er Regau, seine Tochter. – Es ereignete sich bald darauf, daß der schottische König und der Herzog heimlich miteinander verhandelten und sich vornahmen, daß sie alles Land in ihre eigne Hand nehmen und den König Leir mit vierzig Gefolgsmannen ernähren wollten, dieweil er lebte; sie wollten ihm Habichte und Hunde geben, daß er durch das Land reiten möchte und in Freude leben, solange ihm Gott die Sonne gönnte. So verabredeten sie und hielten es nachher nicht. Und König Leir hörte es gern, aber hernach mißfiel es ihm. König Leir kam zum schottischen König Maglaunus, seinem Schwiegersohn, und zu seiner ältesten Tochter. Er wurde mit großer Freundlichkeit empfangen und gut verpflegt, samt seinen vierzig Gefolgsleuten, seinen Pferden und Hunden und allem Zubehör. Bald darauf aber ereignete es sich, daß sich Gornoille überlegte, was sie tun solle. Es schien ihr übel um ihres Vaters Hausstand bestellt und sie begann ihrem Gatten Maglaunus gegenüber zu klagen und sprach zu ihm im Bett, als sie beieinander lagen: »Sage mir, lieber Herr, mich dünkt, daß mein Vater nicht ganz bei Verstande ist, er kennt keine Ehrerbietung, er hat seinen Witz verloren. Er hält hier Tag und Nacht vierzig Ritter, er verfügt über seine Thane und all ihre Burschen, Hunde und Habichte, sie verlassen uns nie und vergeuden alles, das Gute, das wir ihnen tun, nehmen sie hin und Undank allein wird uns für unsre Wohltaten. Sie tun uns große Schande und schlagen unsre Leute, mein Vater hat zu viel überflüssiges Volk. Laß uns ein Viertel des ganzen Trosses entfernen, dreißig werden genügen, ihm bei Tisch zu dienen, wir selbst haben Köche, Pförtner und Schenken genug? Lassen wir einige von dieser unmäßigen Menge fahren, wohin sie wollen; so wahr ich je Gottes Gnade erwarte, ich will es nicht länger ertragen.« König Maglaunus hörte, was sein Weib zu ihm sprach und antwortete mit edlen Worten: »Frau, du redest übel! Hast du nicht Schätze genug? Laß doch deinem Vater seine Freude, er wird nicht mehr lange leben. Wenn fremde Könige hören sollten, daß wir so handelten, so würden wir Vorwürfe ernten. Mag er seinen Troß nach seinem Willen behalten, das ist mein Rat, denn er wird bald tot sein und wir haben die ganze Hälfte seines Reiches in der Hand.« Da sagte Gornoille: »Sei still, Herr, überlaß es mir, ich will sie entlassen!« Sie sandte voll Trug in die Herberge der Ritter und bat sie, ihres Weges zu gehen, denn sie wolle die vielen Thane und Diener, die mit König Leir hierher gekommen wären, nicht mehr ernähren. König Leir hörte[323] dies; er ward sehr zornig und sprach mit klagenden Worten: »Weh wird dem Mann, der Land und Leute hat, und sie an seine Kinder ausliefert, dieweil er sich ihrer noch erfreuen kann, denn oft trifft es ein, daß ihm nachher die Reue kommt. Jetzt will ich von dannen fahren geradeswegs gen Cornwall, ich will Rats erholen bei meiner Tochter Regau, welche den Herzog Amari hat und mein halbes Reich. – Fort eilte der König in den südlichen Bezirk zu Regau seiner Tochter, denn Rat fehlte ihm. Als er nach Cornwall kam, wurde er gut aufgenommen, so daß er ein halbes Jahr lang mit all seinem Gefolge dort verblieb. Dann sprach Regau zu Herzog Amari: »Höre, Herr, ich sage dir fürwahr: wir haben unklug gehandelt, als wir meinen Vater mit dreißig Rittern aufnahmen. Es gefällt mir nicht. Tun wir zwanzig weg, zehn mögen genug sein, denn sie essen und trinken nur und sind für nichts gut.« Da sagte Amari, der Herzog, welcher seinen alten Vater verriet: »Bei meinem Leben, er soll nur fünf Ritter haben, damit hat er Gefolge genug, denn er tut doch nichts, und wenn er von dannen fahren will, so soll er bald entlassen sein.« Sie führten alles aus, was sie besprochen hatten; sie nahmen ihm all seine Ritter und ihre Diener fort, sie wollten ihm nichts lassen als fünf Ritter. König Leir sah es und weh ward ihm. Sein Sinn begann sich zu verwirren, er klagte heftig und sagte sorgenvoll diese Worte: »O Glück, Glück, Glück! Wie betrügst du manchen Mann! Wenn er auf dich am meisten traut, dann verrätst du ihn. Es ist nicht lange her, keine vollen zwei Jahre, daß ich ein reicher König war und meinen Rittern Schätze spendete, jetzt habe ich den Tag erlebt, daß ich nackt und bloß bin, meiner Besitztümer beraubt. Weh ist mir! Ich war bei Gornoille, meiner geliebten Tochter, ich wohnte in ihrem Lande mit dreißig Rittern, ich hätte es aushalten können, aber ich ging von dort weg; ich wähnte gut daran zu tun und habe Übles erfahren. Ich will wieder zurück nach Schottland zu meiner lieben Tochter, ihr Mitleid zu erflehen und sie zu bitten, mich mit meinen fünf Rittern aufzunehmen. Dort will ich wohnen und eine kleine Weile diesen Harm dulden, denn ich werde nicht mehr lange leben.« König Leir ging fort zu seiner Tochter, die im Norden wohnte; volle drei Nächte beherbergte sie ihn und seine Mannen, aber am vierten Tag schwur sie beim Allerhöchsten, daß er nicht mehr als einen Ritter haben solle, und wolle er das nicht, so möge er gehen, wohin es ihm beliebe. Oft war Leir weh, aber nie weher als jetzt. Der alte König sprach aus gequältem Herzen: »Weh, Tod, weh, Tod! Daß du mich nicht vernichten[324] willst! Wahr sagte Cordoille – das wird mir jetzt offenbar – meine jüngste Tochter, die mir so teuer war, und die ich dann am meisten haßte. Höchste Wahrheit sagte sie mir, daß der Mensch, der wenig besitzt, unwert und verachtet lebt, und daß ich nicht mehr wert sei als der Besitz, den ich hatte. Mehr als wahr sprach das junge Weib und tiefste Weisheit war in ihr. Dieweile ich mein Königreich besaß, liebte mich mein Volk wegen meines Landes und meines Gutes und meine Grafen fielen vor mir auf die Knie. Jetzt bin ich ein armer, alter Mann, deshalb liebt mich niemand. Aber meine Tochter sagte mir die Wahrheit und ich glaube ihr jetzt, während ihre beiden Schwestern mich anlogen, daß ich ihnen so teuer wäre, teurer als das eigne Leben. Cordoille tat recht, daß sie mich so liebte, wie man seinen Vater lieben soll. Was wollte ich mehr von meiner Tochter verlangen? Jetzt will ich fortgehen und über die See fahren, um von Cordoille zu hören, was ihr Wille ist. Mit Zorn nahm ich ihre wahren Worte auf, deshalb schäme ich mich jetzt, denn nun muß ich aufsuchen, die ich zuvor mißachtete. Sie kann mir nichts schlimmeres antun als mir ihr Land verbieten.« – Leir ging mit einem einzigen Diener auf See und niemand kannte ihn. Sie fuhren über das Meer und erreichten bald den Hafen. König Leir fragte nach der Königin, und die Leute wiesen ihn zu ihrem Schlosse. Er wanderte über ein Feld, und seine müden Glieder versagten ihm den Dienst. Sein treuer Knappe ging zur Königin Cordoille und sagte ihr insgeheim: »Heil dir, schöne Königin! Ich bin deines Vaters Knecht; dein Vater grüßt dich, er ist hierhergekommen, weil ihm sein ganzes Land genommen ist. Deine beiden Schwestern haben sich gegen ihn verschworen, und er kommt notgedrungen zu dir in dies Land; jetzt hilf ihm, wenn du kannst, er ist dein Vater!« Die Königin Cordoille saß lange schweigend und wurde rot als wäre sie vom Weine trunken, und der Knappe saß zu ihren Füßen. Dann brach sie in diese guten Worte aus: »Herr, ich danke dir, daß mein Vater zu mir gekommen ist! Mit Freude vernehme ich die Nachricht, daß mein Vater noch am Leben ist. Ich will sein Trost sein, wenn mein Leben länger als seines währt. Höre nun, guter Bursch, was ich dir sage! Ich will dir einen großen Kasten geben, mit wohl hundert Pfund an Geld darin. Ich gebe dir ein gutes und starkes Roß, diesen Schatz zu meinem Vater zu bringen und du sollst ihm sagen, daß ich ihn von Herzen grüße und ihn bitte, alsbald auf eine stolze Burg zu gehen, oder in einer reichen Stadt Wohnung zu nehmen. Er soll sich alles verschaffen, was er am meisten wünscht:[325] Speise und Trank, kostbare Kleider, Hunde, Habichte und wertvolle Rosse; er soll in seinem Hause vierzig Gefolgsleute halten, bekleidet mit prächtigen Gewändern, er soll sich ein Bad bereiten und sich zur Ader lassen. Wenn du mehr Geld willst, so hole es bei mir; ich will ihm genug senden und kein Herzog, Ritter oder Knecht in seinem ehemaligen Reiche soll es erfahren. Ehe vierzig Tage vergangen sind, soll mein Land erfahren, daß Leir über die See gekommen ist, meine Reiche zu sehen, und ich will so tun, als wüßte ich von nichts. Ich will ihm mit meinem Gemahl entgegengehen und wir wollen uns über das unerhoffte Zusammentreffen freuen. Zuvor soll es niemand erfahren, daß er angekommen ist, auch mein Herr, der König, nicht. Du aber nimm dein Geld und verwende es gut, und wenn du es gerecht verteilst, so soll es zu deinem Heile sein!« So erhielt der Knappe das Geld und ging zu seinem Herrn, den er auf dem Felde kummervoll am Boden hockend fand, und teilte ihm die Nachricht mit. Bald wurde der alte König getröstet und froh und sagte mit sanfter Stimme diese Worte: »Nach dem Leid kommt die Freude, wohl dem, der sie erwarten kann.« Sie gingen zu einer stolzen Burg und taten alles, was die Königin befohlen hatte. Als vierzig Tage vergangen waren, nahm König Leir seine treuesten Gefolgsleute und ließ seinem Schwiegersohn Aganippus durch Boten mitteilen, er sei in sein Land gekommen, um seine teure Tochter aufzusuchen. Aganippus war froh über Leirs Ankunft; er ging ihm mit all seinen Rittern entgegen und auch die Königin Cordoille begleitete ihn: da hatte Leir seinen Willen. Sie trafen zusammen und küßten einander oft, dann gingen sie in das Schloß und Freude herrschte im ganzen Hause. Da tönten die Trompeten und die Pfeifen klangen, alle Säle waren mit Teppichen behängt, die Speisetische waren mit Gold umsäumt, jeder Mann trug goldene Ringe an der Hand, zu Fiedeln und Harfen sangen die Männer. Der König ließ Leute auf den Wall gehen und überall laut ausrufen, daß der König Leir in das Land gekommen sei: »Jetzt bittet Aganippus, welcher der höchste über uns ist, daß ihr alle dem König Leir gehorsam seid; er soll euer Herr in diesem Lande sein, solange es ihm gefällt, hier zu verweilen, und Aganippus, euer König, wird ihm untertan sein. Wer sein Leben liebt, der halte sich danach und wenn einer dagegen handelt, so soll ihn bald die Rache treffen.« Da antwortete das Volk: »Wir wollen offen und insgeheim allen Willen des Königs tun.« Das ganze Jahr hindurch lebten sie so in Freundschaft und Eintracht. – Als das Jahr vorüber war, da wollte König[326] Leir heimziehen und bat den König um Urlaub, in sein Land zurückzukehren. Der König Aganippus antwortete Leir so: »Nie sollst du von hier fortgehen ohne ein großes Heer; ich will dir fünfhundert Schiffe mit meinen besten Rittern füllen und alle Ausrüstung zu diesem Feldzug verschaffen. Und deine Tochter Cordoille, dieses Landes Königin, soll mit dir fahren. Gehe in dein Land, wo du König warst, und wenn du jemand findest, der dir widerstehen will, so nimm dein Recht und dein Reich mit Gewalt, kämpfe kühn und wirf sie zu Boden. Erobere dein ganzes Land und leg es in Cordoilles Hand, damit sie es nach deinem Tode ganz besitze.« König Leir tat alles, was sein Freund ihm vorschlug. Mit seiner geliebten Tochter kam er in sein Land, er schloß Frieden mit den Guten, die sich ihm unterwerfen wollten, und fällte alle, die sich ihm entgegenstellten. So gewann er sein ganzes Land zurück und gab es Cordoille, der Königin von Frankreich. Eine kleine Weile stand es so an. König Leir lebte noch drei Jahre auf dieser Erde, dann nahte sein letzter Tag, daß er zu sterben kam. In Leicester ließ ihn seine Tochter bestatten. – Cordoille verwaltete das Land fünf volle Jahre lang mit großer Macht; in dieser Zeit starb der König von Frankreich, und sie erhielt die Nachricht, daß sie Witwe geworden sei. Als der König von Schottland erfuhr, daß Aganippus und Leir gestorben seien, da sandte er durch Britannien nach Cornwall und befahl dem bösen Herzog, im südlichen Bezirke Krieg zu führen, er selbst wolle das Land im Norden erobern. Denn es wäre eine große Schmach und ein großes Leid, daß eine Frau in diesem Lande herrschen sollte, während ihre Söhne, welche besser wären als sie, der Königswürde beraubt wären. »Wir wollen es nicht länger dulden, wir wollen das ganze Land haben!« Sie begannen den Krieg und die Söhne der beiden Schwestern sammelten ein Heer. Sie führten ihre Kräfte an und stritten, oft hatten sie die Oberhand und oft unterlagen sie, bis zuletzt das geschah, was ihr heißester Wunsch war, nämlich daß sie die Briten schlugen und Cordoille gefangen nahmen. Sie warfen sie in ein martervolles Gefängnis und quälten sie über die Maßen, so daß das Weib so zornig ward, daß es sich selber verhaßt wurde. Sie nahm ein langes Messer und beraubte sich selbst des Lebens. Da war sie übel beraten, als sie sich selbst tötete.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Märchen, Schwänke und Fabeln. München 1925, S. 319-327.
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