11.
Die neun Söhne des Weibes.
(Aus Russisch-Karelen.)

[85] Es waren einmal drei Schwestern. Einst, als sie im Walde lustwandelten, plauderten sie über dieses und jenes miteinander. Die Aelteste sagte: »Ich kann aus drei Gerstenkörnern für ein ganzes Kriegsheer Speise bereiten.« Die zweite Schwester sagte: »Ich kann aus drei Hanfbündeln für ein Kriegsheer Kleider gewinnen.« Die dritte erklärte: »Ich werde in dreimaliger Schwangerschaft neun Söhnen das Leben schenken.« Zufällig hörte der Königssohn, der sich im Walde befand, die Reden der Mädchen, und dachte in seinem Herzen: »Die muss ich heirathen, welche nach dreimaliger Schwangerschaft neun Söhnen das Leben schenkt!« Er führte das Mädchen auf sein Schloss und machte sie zu seiner Gemahlin.

Die Beiden lebten eine Zeitlang zusammen, da ward das junge Weib schwanger und gebar drei Knaben, die so schön waren, so schön, dass man nicht ihres Gleichen auf Erden fand:


Golden waren ihre Hände,

Die Beine silbern bis zur Lende,

Wie Sonnenschein die Häupter glänzten,

Des Mondes Strahlen hell umkränzten

Der Knaben weisse Stirne.

Von ihren Schultern strahlt der Himmelswagen,

Von ihren Achseln die Gestirne.
[85]

Nun wurde ein Sclave ausgesandt, eine Waschfrau zu suchen. Er war eine Strecke gegangen, als ihm eine Hexe begegnete und ihn anredete: »Wohin des Weges?« – »Ich suche eine Waschfrau.« – »Nun, nimm mich dazu!« bat die Hexe. – »Gut, wenn du kommen willst«, sagte der Andere und wollte sie gleich mithaben. »Warte ein wenig«, sagte da die Hexe. »Ich will nur eben zu Hause hineinschauen, dann komme ich sofort.« Der Sclave wartete auf sie; die Hexe holte aber schnell aus dem Walde drei junge Raben, verbarg sie in ihrer Schürze und ging dann mit dem Sclaven ins Schloss. Dort führte man die Hexe zu den Kindern, dass sie dieselben waschen sollte; aber kaum war das Weib mit der jungen Mutter allein, als sie die Knaben versteckte und an ihre Stelle die jungen Raben that. Dann rief sie aus: »Nun, hier ist auch was Rechtes zu waschen, an solchen elenden Rabenjungen!«

»Dem sei wie es wolle: führt auf jeden Fall mein Weib in die Badstube«, antwortete der Königssohn. Im Herzen grämte er sich aber doch, dass sein Weib anfing ihm Rabenjungen zu gebären. Die junge Königin wurde in die Badstube gebracht, wie befohlen war; während dessen trug die Hexe geschwind die drei Königsknaben aufs freie Feld, auf eine grüne Wiese und steckte sie dort unter einen weissen Stein.

Im Schlosse führte man das alte Leben weiter, und nach einiger Zeit ward die junge Königin zum zweiten Male schwanger. Sie gebar wieder drei Söhne, die ganz wunderbar schön waren, denn:


Goldig schimmerten die Hände,

Die Beine silbern bis zur Lende,

Wie Sonnenschein die Häupter glänzten,

Des Mondes Strahlen hell umkränzten

Der Knaben weisse Stirne.

Von ihren Schultern strahlt der Himmelswagen,

Von ihren Achseln die Gestirne.
[86]

Wieder sandte man Boten aus, eine Waschfrau zu suchen, und auch diesmal kam ihnen die Hexe entgegen und bot sich zu diesem Dienste an. Die Boten wollten sie nicht annehmen; aber die Hexe bog in einen Seitenweg ein und kam ihnen aufs neue entgegen mit den Worten: »Nehmt mich zur Waschfrau!« – Diesmal erkannten die Boten sie nicht als das abgewiesene Weib und wollten sie gleich mitnehmen. »Wartet ein wenig, lasst mich erst zu Hause mal nachschauen«, sagte die Hexe darauf. Sie lief eilends in den Wald und holte dort drei Krähenjungen, die sie aufs Schloss mitbrachte. Als sie zu der jungen Königin hineingelassen worden war, wusch sie wohl die Kinder, versteckte sie jedoch geschwind und trug statt ihrer die Krähenjungen in der Schürze in das königliche Gemach hinein und sagte ärgerlich: »Lohnt sich's denn solches Zeug zu waschen, das sind ja elende Krähenjungen!« Doch der Königssohn befahl, dass man sein junges Weib trotzdem gut pflegen sollte, und sagte: »Wie dem auch sei, führt sie in die Badstube.« – Die Hexe passte auf, und sobald man die junge Königin ins Bad brachte, lief sie eilend mit den Kindern auf das freie Feld, auf die grüne Wiese und steckte sie unter den weissen Stein, worunter schon die vorigen Knaben lagen.

Der Königssohn trug aber doch im tiefsten Herzen Leid um die Sache, und wusste nicht, wie dem abzuhelfen sei, dass ihm seine Gemahlin solche Kinder bescheerte. Die junge Königin wiederum ertrug Alles geduldig und wagte nichts zu erklären, aus Furcht, dass die Hexe ihr etwas anthun möchte; die Krähenjungen pflegte sie als ihre eigenen Kinder. – Was nun weiter? Nach einiger Zeit vergass der Königssohn sein Leid, und die junge Königin ward zum dritten Male schwanger. Als ihre Stunde kam, gebar sie drei Knaben, alle so wunderbar, so schön, dass:
[87]

Golden schimmerten die Hände,

Die Beine silbern bis zur Lende,

Wie Sonnenschein die Häupter glänzten,

Des Mondes Strahlen hell umkränzten

Der Knaben weisse Stirne.

Von ihren Schultern strahlt der Himmelswagen,

Von ihren Achseln die Gestirne.


Man sandte die Boten aus, eine Waschfrau zu suchen, und es erging ihnen, wie früher. Die Hexe kam ihnen wieder entgegen und fragte: »Wohin des Weges?« – »Eine Waschfrau zu suchen.« – »Nun, nehmt mich«, sagte die Hexe. Doch die Boten wollten erst nicht dran und gingen weiter; aber die Hexe bog seitwärts ein und kam ihnen wieder entgegen mit demselben Angebot. – »Nun, wenn du kommen willst, so komm«, sagten die Boten und gingen auf ihren Vorschlag ein. Die Hexe wollte nur erst geschwind zu Hause nachsehen; sie that drei Elsterjungen in ihre Schürze und ging damit aufs Schloss. Man führte sie zur jungen Mutter hinein, aber diese hatte heimlich zwei ihrer Knaben in ihrer Haube versteckt, und es war nur ein Kind da, als sich die Hexe zum Waschen anschickte. Das Weib verwunderte sich nicht wenig darüber, wohin die anderen gekommen sein mochten, und sagte: »Ihr habt doch stets drei Kinder auf einmal geboren, wie ist denn jetzt nur eines da?« – »Ja, Gott hat mir nur dieses eine beschieden, nur dieses einzige«, sagte das junge Weib, und die Hexe musste sich damit zufrieden geben. Sie wusch den einen Knaben und versteckte ihn; aber die Elsterjungen trug sie ins königliche Gemach und rief zornig: »Ist da was zu waschen an diesen Teufeln, an diesen unnützen Elsterjungen!« – »Nun, es sei, was es sei!« sagte der Königssohn. »Führt meine Gemahlin ins Bad.« – Als man die junge Mutter ins Bad brachte, lief die Hexe geschwind mit dem einen Knaben, den sie aus dem Versteck hervorgeholt, ins freie Feld, auf die grüne Wiese, und verbarg ihn unter dem weissen Steine.[88]

Während dessen sann der Königssohn darüber nach, was er seiner Gemahlin anthun sollte, da sie ihm nur junge Vögel gebar. Nachdem er lange nachgesonnen, entschloss er sich doch sie zu verderben, und als man das junge Weib aus dem Bade brachte, liess er es in ein eisernes Fass stecken und dem Meere preisgeben, damit ihn nicht wieder ein solcher Kummer treffen sollte. – Da trieb nun das arme Weib auf dem Meere umher, drei lange Jahre rollte das Fass auf den Wogen dahin; die Söhne, welche die junge Mutter heimlich in ihrer Haube mitgenommen hatte, wuchsen heran, und bald ward ihnen die Zeit in ihrem finstern Gefängnisse lang. Plötzlich merkten sie, dass das Fass auf etwas aufstiess; was es war, wussten sie nicht, – wie sollten sie es denn wissen, da sie im Fasse drin waren? – sie hörten nur, wie das Fass an einen Gegenstand anprallte. Da beteten die Knaben zu Gott und sagten angstvoll: »O lieber Gott, zerbrich unser Fass, dass wir deine Sonne sehen, an deiner Luft uns freuen können!« Kaum hatten sie diese Worte ausgesprochen, als das Fass in die Breite getrieben wurde und in zwei Hälften zerbarst; wie sich das Weib und die Knaben umschauten, merkten sie, dass sie sich auf einer Insel befanden. Sie dankten Gott für seine Hülfe, und wanderten dann auf der Insel herum. Aber die Knaben beriethen sich miteinander: »Wie in aller Welt sollen wir hier leben? Die Insel ist ja ganz öde!« In diesem Augenblick schwamm ein Hecht ans Ufer und rief: »Schlitzt mir den Bauch auf, ihr lieben Knaben!« – »Nein, das thun wir nicht!« sagte der eine Knabe. »Warum sollte ich dich tödten?« – »Thue es nur«, beredete ihn der Hecht; »was in meinem Bauche steckt, das ist eben drin.« Doch der Knabe wollte noch immer nicht daran, ihm den Bauch aufzuschlitzen, bis der Hecht endlich sagte: »Thut doch, was ich begehre. In meinem Leibe steckt eine blaue Mütze und ein Tuch, die[89] werden euch von Nutzen sein. Wenn ihr die Mütze ergreift und damit kreuzweise auf die Erde schlagt, ersteht an der Stelle ein Gebäude; oder wenn ihr am Ufer ins Wasser schlagt und sagt: Es möge sich von hier eine Brücke bis ans Schloss ziehen, dann steht sie sofort da. Aber das Tuch müsst ihr gut aufheben, und wenn ihr in Gefahr gerathen solltet, wird es euch daraus helfen.« – Nun, sie thaten nach des Hechtes Gebot, und als sie mit der Mütze hinschlugen, erhob sich auf der Insel ein Gebäude, so schön, so schön, dass man es nicht mit Worten ausdrücken kann; und vom Ufer zog sich eine steinerne Brücke bis zu des Königs Schlosse.

Was konnte ihnen weiter fehlen? Die Drei lebten nun, wie man es in jedem Hause thut. Aber das Gebäude auf der Insel glänzte wie ein Stern über das Meer, und im Königsschlosse wunderten sich die Leute, wer wohl in solch einem Hause wohnte, aber sie konnten es nicht erfahren. Eines Tages begab sich's, dass ein Bettler am Ufer herumstrich; da entdeckte er die steinerne Brücke, die sich über das Meer zog, und wanderte darüber hin. Er schritt immer weiter, bis er die Insel erblickte, von der aus ihm ein Sternenglanz entgegenstrahlte. Er ging darauf zu, erreichte die Insel und schaute nun das goldig glänzende Haus, in dessen Hof er eintrat. Er wollte sehen, wer darin wohnen mochte, und siehe da, er fand dort ein junges Weib mit ihren zwei Söhnen. Sie gaben dem Bettler zu essen und zu trinken und hielten ihn gut, wie einen Gast. Als er fortging, begleiteten ihn die Knaben bis an die Brücke. Der Alte kehrte zum Festlande zurück und wandte sich dem Königsschlosse zu, dessen Hof er bald erreichte.

Der Königssohn sass am Fenster seines Gemaches und schaute sich das Volk an, das sich auf dem Schlosshofe bewegte; da bemerkte er den Bettler unter dem Haufen und fragte ihn: »Woher kommst du, Alter?« – »O, mein[90] gnädiger König!« antwortete der Bettler, »wenn du wüsstest, woher ich komme, du würdest nicht länger im Hause sitzen!« – »Nun, wo warst du denn?« fragte der Königssohn aufs neue. Da erzählte der Alte: »Ich wanderte von deinem Schlosse ans Ufer und bemerkte dort eine steinerne Brücke, die übers Meer führt. Ich ging über dieselbe hin, und nachdem ich eine Strecke gewandert, kam ich auf eine Insel. Auf der Insel stand ein Gebäude und darin hausten ein junges Weib und ihre zwei Söhne, alle drei so schön, so schön:


Golden waren ihre Hände,

Die Beine silbern bis zur Lende,

Wie Sonnenschein die Häupter glänzten,

Des Mondes Strahlen hell umkränzten

Ihre weisse Stirne.

Von ihrer Schulter strahlt der Himmelswagen,

Von ihren Achseln die Gestirne.


Man gab mir dort reichlich zu essen und zu trinken und hielt mich so gut, als wärest du selber ihr Gast; und als ich fortging, begleiteten mich die Knaben noch ein Stück Weges.«

Beim Anhören dieser Erzählung fuhr es dem Königssohne blitzschnell durch den Sinn: »Wie, sollte es nicht meine Gemahlin sein, die auf der Insel mit ihren Söhnen lebt?« »Auch ich habe schon darüber nachgedacht,« sagte er dann, »was das für ein Schloss sein mag, welches wie ein Stern herüberglänzt; aber ich wusste nicht, wer darin wohnt. Wie könnte ich wohl dorthin gelangen, dass ich die Bewohner der Insel zu sehen bekäme?« – »O, du kannst leicht hinüberkommen«, sagte der alte Bettler; »die Brücke ist so gut, wie es keine zweite giebt, und wenn du Lust hast, will ich dir als Führer dienen.« – Darauf gingen die Beiden längs der Brücke auf die Insel, der Bettler voran. Der Königssohn sah das Haus, ging hinein und begrüsste die Bewohner desselben. Er verweilte eine Zeitlang bei[91] ihnen, man sprach über dies und jenes; endlich fragte der Königssohn: »Sagt doch, aus welchem Lande seid ihr hierhergerathen?« Die Knaben antworteten: »Sieh, aus jenem Lande!« und erzählten ihm dann ihre Schicksale. Als sie geendet, brach der Königssohn in Thränen aus und sagte: »Ich bin schuld an euren Leiden; ihr seid meine Kinder!« Darauf umarmte er die Mutter der Knaben und rief: »Du bist mein Weib! Ich bin ja dein Gatte, und diese Knaben sind meine Söhne!« Die Freude über dieses Wiedererkennen war so gross, dass kein Vers es beschreiben, kein Wort es ausdrücken kann. Endlich sagte der Königssohn: »Kommt mit mir, meine Söhne, in das Schloss, wo ihr geboren seid!« Er nahm sein Weib und die Knaben mit sich und alle begaben sich auf den Weg. Der eine Knabe zog die Mütze aus seiner Tasche, schlug damit an das Haus, – und dieses verschwand sofort; ebenso auch die Brücke, nachdem sie über dieselbe gegangen waren und er mit der Mütze daran geschlagen hatte. Im Königsschlosse wurde aber ein grosses Fest gefeiert, aus Freude darüber, dass der Königssohn seine Gemahlin und seine Söhne wiedergefunden hatte.

Nun lebten sie vergnüglich weiter. Der eine Tag ging, der andre kam, und Glück und Friede herrschte im Hause des Königssohnes. Einst jedoch hörten die Knaben von ihrer Mutter, dass sie noch andere Brüder besessen hatten, welche von der Hexe bei Seite geschafft worden waren. Da ergriff die Knaben eine brennende Sehnsucht nach ihren Brüdern; sie hielten es nicht länger zu Hause aus, sondern baten stets die Mutter: »O Mutter, die du uns geboren, lass uns ausziehen, die Brüder zu suchen!« Die Mutter wollte sich nicht von ihren einzigen Kindern trennen und versuchte, sie von ihrem Vorhaben abzubringen; sie sagte: »Geht nicht, meine Söhne, solche Wege! Ihr könntet dabei umkommen!« Aber die Knaben quälten sie und gaben ihr keine Ruhe, bis sie endlich einwilligte und sagte: »Nun,[92] wenn euer Sinn danach steht, so zieht aus, meine Söhne! Gott sei mit euch!« Die Knaben machten sich nun auf den Weg; aber zuvor melkte die Mutter Milch aus ihren Brüsten und bereitete süsse Brödchen daraus, die sie ihren Söhnen zur Wegzehrung mitgab. Die Knaben wanderten fort, wanderten Tage lang dahin; da sahen sie einst eine Möwe auf der Spitze einer Tanne sitzen. Nun entstand ein Streit zwischen den Brüdern. Der eine sagte: »Ich will doch die Möwe von dort wegschiessen!« und legte die Armbrust auf sie an. Aber der andre hielt ihn zurück und meinte: »Lass das Schiessen sein. Warum willst du den Vogel tödten? lebend ist er doch schöner.« Trotzdem wollte der erste seine Ambrust abschiessen; da redete die Möwe selbst ihn an: »Schiesse mich nicht, mein Knabe; ich kann dir viel nützen.« Der Knabe wunderte sich über die Rede der Möwe und liess die Armbrust sinken; aber bald bereute er dieses wieder, meinte: »Was kannst du mir Gutes thun?« und zielte aufs neue auf die Möwe. »Tödte nicht einen so schönen Vogel!« bat der andere Bruder, und der Knabe schoss nicht ab; doch die Lust war zu gross, und er legte zum dritten Male an. Er wollte eben abschiessen, als die Möwe ihn wieder anredete: »Schiesse mich nicht, mein Knabe, ich kann dir viel Gutes thun?« – »Was könntest du mir Gutes thun?« meinte der Knabe, liess aber doch die Armbrust sinken. – »Sieh, du kannst nicht wissen, was euch auf der Wanderschaft begegnen mag«, antwortete die Möwe von der Tannenspitze. Der Knabe mochte sie nun nicht mehr ängstigen, und das Schiessen unterblieb. Die Brüder wanderten weiter. Nach einer Weile gelangten sie an das Ufer eines Meeres und blieben rathlos davor stehen. »Wie kommen wir nur hinüber?« fragte der junge Schütze. »Das kommt davon!« meinte der Bruder eifrig, »warum hast du die Möwe geängstigt! Habe ich dich denn nicht gewarnt?« »Ja, gewiss hätte[93] ich sie auch geschossen, wenn du, Feigling, mich nicht daran verhindert hättest!« sagte der Andere zornig. »Nun mag die Möwe uns zu Hülfe kommen, wie sie versprochen! Wenn sie wirklich uns nützen will, so möge sie uns über das Meer ans andere Ufer tragen!«

Er hatte kaum diese Worte ausgesprochen, als die Möwe herangeflogen kam; sie liess sich nieder und sagte: »Steigt auf meinen Rücken, ihr Knaben, dann will ich euch übers Meer tragen.« Die Knaben thaten es, und die Möwe flog mit ihnen auf. Sie flog und flog und stieg immer höher gen Himmel, bis sie endlich fragte: »Wie gross erscheint das Meer eurem Auge?« – »Nicht grösser als ein Eimerdeckel«, antworteten die Knaben. Da senkte sich der Vogel schnell herab und tauchte mit ihnen ins Meer, sodass sie nass wurden; dann stieg er wieder auf, noch höher als das erste Mal, und fragte aufs neue die auf seinem Rücken Sitzenden: »Erscheint das Meer eurem Auge noch gross?« – »Wie ein Sieb nur, grösser nicht«, antworteten zitternd die Knaben. Da stürzte sich die Möwe zum zweiten Male mit ihnen ins Meer, sodass ihnen das Wasser über den Köpfen zusammenschlug, und stieg dann wieder in die Lüfte. Als sie in grösster Höhe war, fragte sie: »Wie gross erscheint das Meer eurem Auge?« – »Wie eine Bratpfanne nur, nicht grösser«, antworteten die Knaben. Pfeilschnell liess sich nun die Möwe mit ihnen hinab und tauchte noch tiefer ins Meer als die ersten Male, sodass die Knaben in immer grössere Angst geriethen; doch bald flog sie wieder auf und stieg nicht mehr hoch in die Luft, sondern strich unten hin und brachte die Knaben endlich ans Ufer. Dort liess sie sie von ihrem Rücken absteigen und sagte dann zu dem, der sie hatte schiessen wollen: »Als du auf mich die Armbrust anlegtest, mein Knabe, da war mir gerade so angst wie dir, als ich zum ersten Male mit euch untertauchte. Wie du zum zweiten und dritten Male auf mich zieltest,[94] ward mir so schrecklich zu Muthe, dass ich den Himmel nicht mehr über mir sah; ebenso erschien dir das dritte Untertauchen am furchtbarsten. Nun habe ich mein Wort gehalten, da ich euch übers Meer getragen habe; geht jetzt, wohin es euch gelüstet!«

Die armen Knaben wanderten nun nach eigenem Gutdünken weiter und irrten lange Zeit in fremden Ländern umher. Sie gingen und gingen, und wussten nicht wohin. Da erinnerte sich der eine Knabe des Tuches, das ihnen der Hecht gegeben hatte, und er sagte zu seinem Bruder: »Der Hecht hat uns ja ein Tuch gegeben und gemeint, dass es uns nützen würde; möge es uns jetzt aus der Noth helfen!« Mit diesen Worten nahm er das Tuch aus seiner Tasche und liess es dahinflattern. Kaum hatte er das Tuch losgelassen, als es vor ihnen her immer weiter flatterte, während sie demselben folgten. Sie mochten schon eine gute Strecke gegangen sein, als sie in einen dichten Fichtenwald traten; dort sass ein Riesenvogel auf einer Fichte und redete die Brüder an: »Wohin geht ihr, liebe Knaben?« – »Wir sind ausgezogen, unsere Brüder zu suchen,« sagten die Beiden; »weisst du nicht, wo wir sie finden könnten?« – »Das weiss ich freilich nicht,« antwortete der Vogel; »aber wenn ihr noch eine kurze Strecke von hier weiterwandert, dann kommt ihr an ein Gehöft; dort werdet ihr vielleicht erfahren können, wo eure Brüder sind.«

Die Knaben dankten dem Vogel für die Auskunft, liessen das Tuch vor sich herflattern und folgten demselben, bis sie an das bezeichnete Gehöft gelangten und dort in die Stube traten. Ein Weilchen sassen sie drin, da fragte sie die Hauswirthin: »Woher seid ihr, ihr Fremdlinge?« »Wir kommen von dort und dort«, sagten die Knaben. »Wir suchen unsere Brüder; könntet Ihr es uns wohl sagen, wo sie weilen?« – »Ganz gewiss sind eure Brüder in diesem Lande«, sagte die Hausfrau. »Sieben Knaben fliegen hier[95] des Tages als Schwäne über dem Meere; aber nicht weit von hier ist ein Gehöft, wo sie sich zur Nacht versammeln und sich wieder in Menschen verwandeln. Wenn ihr jenes Haus erreicht, werdet ihr eure Brüder finden.« Die Knaben erstaunten nicht wenig, als sie diese Rede hörten. Sie hatten keine Ruhe mehr in der Stube, sondern nahmen Abschied von der Hausfrau und folgten eilig dem Tuche, das vor ihnen hinflatterte. Bald senkte sich dieses nieder, und als die Knaben hinschauten, sahen sie ein Gehöft in der Nähe stehen, grade wie es ihnen beschrieben worden war. Sie traten in die Stube hinein, sassen ein Weilchen drin, da fragte sie die Hauswirthin: »Woher seid ihr, meine Knaben?« – »Sieh, wir suchen unsere Brüder«, berichteten die Knaben. »Eine ganze Spanne Zeit haben wir schon auf dieser Wanderung verbracht; sind wir nicht jetzt am Ziele?« – »Gewiss, euer Wandern hat nun ein Ende«, antwortete die Hauswirthin. »Eure Brüder fliegen des Tages als Schwäne über dem Meere; aber zur Nacht kommen sie immer hierher, legen das Schwanengefieder draussen ab und treten als Männer in die Stube. Wenn ihr hier bis zum Dunkelwerden verweilen wollt, werdet ihr sie treffen. Aber zeigt euch ihnen nicht, sonst fliehen sie vor euch. Solltet ihr in der Stube sein, wenn sie herankommen, dann eilt schnell hinaus auf den Hof und verbrennt die Schwanenbälge, so werden eure Brüder ihre Menschengestalt behalten.«

Wie sehr erfreuten die Worte der Hauswirthin das Herz der Knaben! Sie plauderten mit ihr, bis der Abend herankam. Endlich, als es finster geworden war, ging ein Rauschen durch die Luft, und ein Schwarm Vögel liess sich auf dem Hofe nieder. Das Schwanengefieder ward draussen abgelegt, und in ihrer Menschengestalt traten die Brüder herein. Dort staunten sie sofort, meinten, in der Stube sei ein »Muttergeruch«, und fingen an, jeden Winkel zu durchsuchen. Die Beiden waren aber auf ihrer Hut und eilten[96] hinaus. Auf dem Hofe ergriffen sie die Schwanenbälge und verbrannten sie zu Asche, wie ihnen die Hauswirthin geheissen. Doch der Brandgeruch drang in die Stube hinein, und die Anderen wunderten sich und sagten: »Was riecht hier nach Versengtem?« und alle stürzten hinaus um danach zu sehen. Als sie ihr Gefieder zu Asche verbrannt fanden, erschraken sie sehr, liefen zur Hauswirthin zurück und riefen: »Wie seltsam, liebe Frau, dass unser Gefieder verbrannt worden ist!« – Zugleich traten auch die beiden Knaben in die Stube, und die Anderen wendeten sich zürnend gegen sie: »Was seid ihr für Gesellen, dass ihr unsere Bälge verbrannt habt?« – »Ach, wir sind es ja, eure Brüder!« sagten die Beiden. »Eine gute Spanne Zeit haben wir auf der Wanderung verbracht, euch zu suchen. Endlich haben wir euch gefunden!« Nun ging ein Fragen und Erkennen los und die Brüder umarmten einander in ihrer Herzensfreude. Sie erzählten einander ihre Lebensschicksale, und so verging die Nacht, bis der Tag zu dämmern begann. Da nahmen sie Abschied von der Hauswirthin und machten sich alle zusammen auf den Heimweg. Bevor sie fortgingen, suchten die zwei Knaben die Muttermilchbrötchen hervor, reichten sie den Brüdern und sagten: »Kostet diese Brötchen, die mit unsrer Mutter Milch bereitet sind.« Die Andern kosteten sie und sagten: »Es ist gar lange her, seit wir der Mutter Milch getrunken haben; wir mussten dahingehen, als wir sie kaum geschmeckt hatten.« Sie liessen wieder das Tuch dahinflattern und folgten ihm, bis sie an das Königsschloss gelangten, wo ein Jubel ausbrach, der sich nicht mit Worten beschreiben lässt. Der König war so voll Staunen, dass er nicht wusste, wohin mit seiner Freude, und die Heimkehr der Söhne ward mit einem Fest gefeiert, das viele Tage dauerte. – So weit geht die Geschichte.

Quelle:
Schreck, Emmy: Finnische Märchen. Weimar: Hermann Böhlau, 1887, S. 85-97.
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