22.
Der weise Mann und das Fieber.
(Aus Karelen.)

[175] Es waren ein Mal ein Mann und eine Frau. Die lebten sehr schlecht miteinander, und der Mann hatte gar keine Ruhe vor seinem Weibe, das immer zankte und böse war. Nun, einstmals entwich der Mann vor seinem keifenden Weibe und humpelte voll Leides in den Wald hinein; da[175] erblickte er zwischen zwei Felsen eine Grube, die so tief war, dass kein Auge ihren Grund sehen konnte. Schon wollte sich der Mann da hinunterstürzen, so bitterschwer war ihm zu Muthe; aber als er den Himmel anschaute und die von Gott geschaffene Welt um ihn her, da mögen ihm wohl andere Gedanken gekommen sein: er sprang nicht in den Abgrund hinab, sondern entfloh dem Orte und eilte wieder nach Hause.

Als er in seine Hütte trat, hörte er, wie sein Weib ganz für sich allein schimpfte; er kümmerte sich jedoch nicht weiter darum, sondern stellte sich muthig vor die Keifende und sagte: »Komm, lass uns Geld holen; ich habe auf meiner Wanderung im Walde einen Schatz gefunden.« – Das Weib hielt im Zanken inne und rief: »Wie, du hast einen Schatz gefunden? Wo hast du ihn, Freundchen, gefunden? Wir müssen ihn nur ja zu uns ins Haus schaffen, damit ihn Niemand anders holen kann!«

Nun, sie gingen in den Wald hinaus, ganz friedfertig schritten sie nebeneinander, wie recht gute Freunde, und die ganze Zeit schwatzte das Weib ihrem Manne vor, wie sie sich jetzt einrichten und wie sie leben wollten, sobald der Schatz gehoben wäre. Die Beiden kamen endlich an den Abgrund, und der Mann sagte zu seinem Weibe: »Siehst du, in der Grube ist das Geld, schau selber vom Rande hinab.« Das Weib sprang hinzu und blinzelte hinunter, um den Grund zu erschauen; aber der Mann, der sie zum Scheine von hinten festhielt, damit sie nicht fallen sollte, stiess sie in demselben Augenblick in den Abgrund hinein; – er selber ging ruhig nach Hause.

Nun, einige Tage verlebte der Mann ganz allein in seiner Hütte; da fing ihm die Zeit jedoch an lang zu werden, weil er so gar keinen Gefährten hatte, und er sann[176] und dachte in seinem Sinne: »Schlecht war es mit dem bösen Weibe zu leben, aber schlecht lebt sich's auch ohne das böse Weib!«

Mit diesen Gedanken knüpfte er ein Holzscheit an ein Seil und ging hin, um aus dem Abgrunde sein Weib zu holen, wenn dieses noch am Leben sein sollte. Er trat an die Grube heran, und kaum hatte er das Seil hinuntergelassen, als sich auch Jemand daran anhing. Na, es blieb nichts Andres übrig, der Mann zog, zog am Seil, aber als er die am Tauende hängende Gestalt bis an den Rand heraufgebracht hatte und sie anschaute, – sieh, da hing gar nicht sein eignes Weib am Stricke, sondern es war irgend eine Fremde. Der Mann erschrak darüber und meinte: »Was gehen mich fremde Weiber an?« Er machte sich schon daran mit seinem Messer das Seil abzuschneiden, als die Andere ihn angstvoll anflehte: »Ach, Brüderchen, Goldbruder, schneide nicht das Tau entzwei, hilf mir doch von hier!«

Na, der Mann fühlte Erbarmen, als er sah, welch eine Angst die Andere ausstand; er brachte es nicht übers Herz das Seil entzweizuschneiden, sondern half dem Weibe herauf. Als sich dieses auf festem Boden befand, ward es ganz ausser sich vor Freude und hielt dem Manne eine lange Dankrede. »Gut war es,« sagte sie, »dass du mir aus der Grube halfst, Goldbruder, denn gestern kam ein so grimmiges Weib hinunter, dass ich unmöglich mit ihr dort leben konnte.« – »So, so, das kam dir schwer an, du Arme!« sagte der Mann; »nun, was gedenkst du jetzt vorzunehmen?« »Ja, das weiss ich nicht!« erwiderte die Frau; »lass uns doch miteinander leben und zu Zweien durch die Welt wandern?« »Das wäre etwas!« antwortete der Mann; »das Alleinsein ist gar traurig. Aber wovon sollen wir leben?« – »Sei ohne Sorge, ich weiss guten Rath«, sagte die Frau. »Du, Männchen, wirst zum weisen[177] Manne und ich zum Fieber, und wenn ich Jemand krank mache, kommst du als Helfer hinzu; auf diese Weise schlagen wir uns durch im Leben.« – »Ei, man muss doch irgend ein Amt haben,« meinte der Mann seinerseits, und ward zum »weisen Manne«; das Weib jedoch trat als Fieber auf, wie verabredet worden war.

Die beiden begannen ihre Wanderung und lebten so fort: das Weib machte die Menschen krank, und der Mann kurirte sie; und so einmüthig thaten sie ihre Arbeit, dass die Kranken stets genasen und der Mann von dem erhaltenen Lohne überaus reich wurde. Na gewiss, es war schön als reicher Mann zu leben; aber als ihm das Fieber im Laufe der Zeit überall zu schaffen machte und ihm keine Ruhe gab, indem man ihn immer wieder als Helfer holen musste, ward er der Arbeit zuletzt recht müde. – »Ich bin ja reich genug geworden,« meinte er, »und will mein Amt endlich niederlegen.«

Mit diesen Gedanken verschaffte er sich einen recht bösen bissigen Hund und steckte ihn in einen Sack, worin derselbe tüchtig knurrte und winselte. Da nun unterdessen das Fieber wieder einen Menschen angefallen hatte, und man den Mann als Helfer aufsuchte, trat er an das Fieber, das aus der Grube erstandene Weib, heran und sagte: »Höre nun auf die Menschen zu quälen! Thust du es nicht willig, so lasse ich aus diesem Ledersack das Weib heraus, das dich damals in der Grube so gepeinigt hat!« Bei diesen Worten stiess er mit dem Stocke an den bösen Hund im Ledersack, sodass dieser laut knurrte. Das Fieber hörte das und flehte in seiner Angst zum Manne: »Goldbrüderchen, lass das Weib nicht los! Ich höre ganz gewiss auf die Kranken zu quälen, und auch du wirst fortan in Ruhe leben können!« – »Nun gut, wenn du von deinem Geschäft lassen und die Menschen nicht mehr unnütz peinigen[178] willst, mag das Weib im Ledersack bleiben«, sagte der Mann und ging mit dem Sack nach Hause.

Auf diese Weise ward er seine schlimme Gefährtin los und brauchte nicht mehr als »weiser Mann« in der Fremde herumzuziehen, sondern er richtete sich in seiner frühern Hütte ein und lebte dort so wie in alter Zeit. – So weit die Geschichte.[179]

Quelle:
Schreck, Emmy: Finnische Märchen. Weimar: Hermann Böhlau, 1887, S. 175-180.
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