47. Rindon

[135] Einst lebte eine Frau, die eine grosse Menge Garn gesponnen hatte. Sie wollte gerne eine Leinwand daraus weben lassen, aber die Leineweber arbeiten bekanntlich nicht umsonst. Während sie noch darüber nachdachte, trat ein Mann ein. – »Ich webe dir das Garn zu Leinwand,« sagte er, »und zwar umsonst, wenn du, ich lasse dich dreimal raten, meinen Namen erraten kannst. Bringst du es nicht zuwege, so gehört die Leinwand mir. Willst du?«

Die Frau übergab ihm das Garn, doch nach seinem Weggang empfand sie Furcht. – »Vielleicht ist das der Teufel?« dachte sie. »Lieber Gott, liebe Jungfrau, steht mir bei, dass ich seinen Namen errate.« –

Plötzlich erhob sich ein starker Wind, der die dürren Äste von den Bäumen riss. Sie ging hinaus in den Wald, um die dürren Zweige aufzulesen und hörte dabei Stimmen. Ein Leineweber, der eben an der Arbeit war, sang lachend heraus:


Cllin, cllas, cllin, cllas!

Wenn die gute Frau dort unten

Wüsste, dass ich Rindon heisse,

Würde sie nicht ängstlich sein.


Die Frau zweifelte nicht im geringsten, dass das ihr Weber sei und ging mit ihrer Holzbürde ruhig heim. Ihre Angst war weg.

Gegen Abend kam der Weber zu ihr. »Die Leinwand ist fertig. Errate nun meinen Namen.« – »Du heisst Wilhelm, nicht wahr?« – »Nein.« – »So heisst du Robert.« – »Nein.« – »Dann aber Rindon.« – »Verfluchte, da hast du die Leinwand,« schrie der Kleine wütend und warf sie ihr ins Antlitz. Seit der Zeit sah man ihn nicht mehr.


(Basse-Normandie.)

Quelle:
Blümml, Emil Karl: Schnurren und Schwänke des französischen Bauernvolkes. Leipzig: Deutsche Verlagsaktiengesellschaft, 1906, S. 135-136.
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