65. Johann und Peter

[183] Einst lebte eine arme Frau, die zwei Söhne, namens Johann und Peter, hatte. Peter, der das Elend zu Hause sah, trat in die Dienste eines Bauern. – »Wieviel Lohn willst du?« frug ihn dieser. – »Hundert Taler.« – »Du sollst sie haben. Aber höre zunächst meine Bedingung: derjenige, der sich von uns beiden beim ersten Streit ärgern wird, dem wird das Kreuz zerbrochen.« – »Herr, ich ärgere mich nie.«

Aber schon nach acht Tagen hatte Peter mit seinem Herrn einen Streit, er ärgerte sich tüchtig und sein Herr zerbrach ihm das Kreuz. Er kehrte nach Hause zurück und berichtete seinem Bruder, was ihm zugestossen sei. Johann liess sich das Haus des Bauern näher bezeichnen und bot diesem seine Dienste an, ohne zu sagen, dass er der Bruder des Peter sei. – »Wieviel Lohn willst du?« – »Herr, gebt mir hundert Taler.« – »Gut, du sollst sie haben, aber höre zunächst meine Bedingung. Beim ersten Streit soll dem von uns, der sich ärgern wird, das Kreuz zerbrochen werden«. – »Herr, ich ärgere mich nie.«

Am nächsten Tage schickte ihn der Herr mit einer vierspännigen Ladung Getreide auf den Markt. Johann verkaufte sowohl die Ladung als die Pferde und gab das Geld seinem Bruder. Dann kehrte er heim. Der Herr frug ihn: »Wo hast du Wagen und Pferde?« – »Herr, ich habe sie einem Mann, den ich auf der Strasse begegnete, verkauft.« – »Und wo hast du das Geld?« – »Das Geld habe ich meinem Bruder gegeben, dem ihr das Kreuz zerbrochen habt.« – »Willst du mich denn zugrunde richten?« – »Herr, ärgert ihr euch?« – »Nicht im geringsten.« – »Ihr wisst doch, dass dem, der sich ärgert, das Kreuz zerbrochen wird«. – »Ich ärgere mich ja so nicht.«

Am nächsten Tag sprach der Herr zu seiner Frau: »Ich lasse Johann die grosse Eiche aus dem Wald holen; da er nicht imstande sein wird, sie herzubringen, so werde ich ihm dann Vorwürfe machen, worüber er sicher in Zorn gerät.« Johann fuhr mit seinem vierspännigen Gefährte fort, verkaufte es, wie das erstemal und kehrte dann zurück. – »Wo ist der Wagen?« frug ihn der Herr. – »Ich habe ihn im Wald gelassen, da ich ihn nicht von der Stelle bringen konnte.« – »Du wirst uns zugrunde richten!« – Die Frau schrie ebenfalls: »Du wirst uns zugrunde richten!« – »Herr, ärgert ihr[184] euch?« – »Nicht im geringsten.« – »Ihr wisst doch, dass dem, der sich ärgert, das Kreuz zerbrochen wird.« – »Ich ärgere mich ja so nicht.«

Eines Tages, als Johann in der Scheune drosch, gingen der Herr und die Frau frühstücken, ohne ihn zu rufen. Johann tat, als ob er nichts bemerken würde. Er verkaufte das ausgedroschene Korn, frühstückte trefflich im Gasthaus und kam dann wieder zurück. – »Johann, wo hast du das Korn?« – »Da ihr mich nicht zum Frühstück gerufen habt, so habe ich das Korn verkauft und das Geld zu einem Frühstück verwendet.« – »Johann, du wirst uns zugrunde richten.« – »Herr, ärgert ihr euch?« – »Nicht im geringsten.« – »Ihr wisst doch, dass dem, der sich ärgert, das Kreuz zerbrochen wird.« – »Ich ärgere mich ja so nicht.«

Die Bäuerin sprach zu ihrem Mann: »Schicken wir ihn mit unseren Ferkeln auf die Weide; dort wird ihn der Menschenfresser verzehren und wir sind seiner los.« – Johann zog mit den Ferkeln ab und beim Hause des Menschenfressers angelangt, trat er ein. Er hatte einen Sperling in der Hand. – »Du kannst nicht so hoch fliegen als dieser kleine Vogel?« frug er den Menschenfresser. – »Nein«, erwiderte dieser. – »Ich bin hungrig.« – »Ich auch. Was sollen wir frühstücken?« – »Machen wir uns eine Suppe.«

Als diese gekocht war, setzten sie sich zu Tisch. Johann hatte sich in der Magengegend eine grosse Tasche befestigt. In diese gab er einen grossen Teil der Suppe, während der Riese sie gierig verschlang. Als Johann seine Tasche gefüllt hatte, schnitt er sie auf und die ganze Suppe rann aus. Nun begann er wieder zu essen. – »Ich möchte mich auch so entleeren wie du«, rief der Menschenfresser. »Schneide mir den Magen auf.« – Johann liess sich das nicht zweimal sagen und schnitt ihm den Magen so gut auf, dass der Menschenfresser daran starb.

Als er dies vollbracht hatte, kehrte Johann zu den Schweinen zurück, schnitt allen die Schwänze ab und verkaufte die Tiere. Die Schwänze warf er in einen Sumpf und kehrte dann zu seinem Herrn zurück. – »Wo sind die Schweine?« – »Sie sind in einen Sumpf gestürzt.« – »Ziehen wir sie heraus!« – »Herr, man kann nicht hinein.« – Der Herr ging aber trotzdem hin und als er eines der Tiere am Schwanz herausziehen wollte, blieb ihm dieser in Händen und er fiel mit dem Hintern in den Schlamm. – »Du wirst uns zugrunde[185] richten!« – »Herr, ärgert ihr euch?« – »Nicht im geringsten.« – »Ihr wisst doch, dass dem, der sich ärgert, das Kreuz zerbrochen wird.« – »Ich ärgere mich ja so nicht.«

Die Frau sprach zu ihrem Mann: »Schicken wir ihn mit den Gänsen auf die Weide.« Johann zog mit den Gänsen ab. Als er abends heimkehrte, fehlten ihm zwei oder drei, die er verkauft hatte. – »Johann, es gehen Gänse ab.« – »Herr, ich kann nichts dafür, ein Tier frass sie.« – »Du wirst uns zugrunde richten.« – »Herr, ärgert ihr euch?« – »Nicht im geringsten.« – »Ihr wisst doch, dass dem, der sich ärgert, das Kreuz zerbrochen wird.« – »Ich ärgere mich ja so nicht.«

»Ein einziger Knecht«, rief die Frau, »richtet uns zugrunde. Ich werde mich in einem Gebüsch verstecken, um zu sehen, was er mit den Gänsen macht.« – Johann hatte diese Worte vernommen. Bevor er auf die Weide ging, sprach er zum Herrn: »Herr, ich nehme mir euere Flinte mit, damit ich, wenn das Tier kommt, es töten kann.« – Als er die Frau im Gebüsch erblickte, schoss er auf sie und tötete sie. Abends brachte er die Gänse zurück. – »Herr, zählt, es fehlt nicht eine. Das Tier, das sie frass, habe ich getötet.« – »Unglücklicher, du hast meine Frau getötet.« – »Davon weiss ich nichts. Ich habe nur ein fettes Tier erschossen. Ärgert ihr euch?« – »Jawohl, ich ärgere mich!« – Daraufhin zerbrach ihm Johann das Kreuz und kehrte zu seiner Mutter zurück.


(Lorraine.)

Quelle:
Blümml, Emil Karl: Schnurren und Schwänke des französischen Bauernvolkes. Leipzig: Deutsche Verlagsaktiengesellschaft, 1906, S. 183-186.
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