52. Goldfuß

[260] Es war einmal ein Schmied in Pont de Pîle, der war eine Klafter groß und stark wie ein Paar Ochsen. Er war ein Mann, der schwärzer war als ein Herd, mit langem Bart, borstigen Haaren und mit Augen so rot wie Kohlen. Nie setzte er seinen Fuß in eine Kirche und er aß jederzeit Fleisch, sogar am Karfreitag. Man sagte, daß der Schmied von Pont de Pîle nicht vom Stamme der Christen sei. Tatsache ist, daß er allein in seinem Hause wohnte, welches die Kunden niemals betreten durften, vielmehr mußten sie den Meister herausrufen, wenn sie mit ihm zu tun hatten. Der Schmied hatte niemanden seinesgleichen in der Bearbeitung[260] des Eisens sowohl wie des Goldes und des Silbers. Die Aufträge fielen in sein Haus wie der Hagel. Er besorgte alles ohne eine andere Hilfe als die eines schwarzen Wolfes, der so groß war wie ein Pferd. Tag und Nacht blieb dieser Wolf im Rad eingesperrt, welches den Blasebalg der Schmiede in Betrieb setzte. Sieben junge Leute hatten sich beim Meister gemeldet, um das Handwerk zu lernen. Aber die Proben waren so hart, so hart, daß sie daran nach drei Tagen starben.

Um diese Zeit lebte im Weiler La Côte eine arme Witwe, welche mit ihrem Sohn allein ein Häuschen bewohnte. Als der Bursch das Alter von vierzehn Jahren erreicht hatte, sagte er eines Abends zu seiner Mutter: »Mutter, wir reiben uns alle beide mit der Arbeit auf und verdienen doch nicht einmal unsern Lebensunterhalt. Morgen will ich den Schmied von Pont de Pîle aufsuchen und sein Lehrling werden.« »Mein Freund, dieser Mann setzt nie den Fuß in eine Kirche und ißt jederzeit Fleisch, sogar am Karfreitag. Man sagt, er sei nicht vom Stamme der Christen.« »Mutter, der Schmied von Pont de Pîle wird mich nicht zur Sünde verleiten.« »Mein Freund, sieben junge Leute haben sich bei ihm gemeldet, um das Handwerk zu lernen. Aber die Proben waren so hart, so hart, daß sie daran nach drei Tagen gestorben sind.« »Mutter, ich werde die Proben aushalten und werde nicht sterben.« »Mein Freund, ich stelle alles der Gnade Gottes und der heiligen Jungfrau Maria anheim.« Beide gingen schlafen.

Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch fand sich der Knabe vor der Werkstatt des Schmiedes von Pont de Pîle ein. »Ho! Schmied von Pont de Pîle! Ho! Ho! Ho!« »Was willst du Bursch?« »Schmied von Pont de Pîle, ich will Euer Lehrling werden.« »Tritt ein, Bursch!« Der Knabe trat in die Werkstatt ohne Furcht und Grauen. »Bursch, zeige mir, daß du stark bist!« Der Knabe nahm einen sieben Zentner schweren Amboß und warf ihn mehr als hundert Klafter weit. »Bursch, zeige mir, daß du geschickt bist!« Der Knabe ging zu einem Spinnennetz, haspelte es von einem Ende zum anderen auf[261] und wickelte es zu einem Knäuel, ohne auch nur einmal den Faden zu zerreißen. »Bursch, zeige mir, daß du Mut hast!« Der Knabe öffnete die Pforte des Rades, in welchem der schwarze Wolf, der so groß war wie ein Pferd und der den Blasebalg der Schmiede betrieb, Tag und Nacht hauste. Sogleich sprang der Wolf heraus. Aber der Knabe ergriff ihn noch im Sprunge beim Hals, schnitt ihm den Schwanz und die vier Tatzen auf einem Amboß ab und verbrannte ihn lebendig im Feuer der Esse. »Bursch, deine Proben sind bestanden. Du bist stark, geschickt und mutig. In drei Tagen sollst du in meinem Dienst sein. Ich werde dich gut bezahlen. Aber ich wünsche nicht, daß du bei mir wohnst noch ißt.« »Meister, ich gehorche Euch.«

Der Lehrling verabschiedete sich vom Schmied von Pont de Pîle und ging. Draußen dachte er: »Meine Mutter hat recht. Mein Meister ist kein Mensch wie die anderen. Während dreier Tage werde ich mich verbergen und ihn beobachten, ohne daß er mich sieht. Dann werde ich wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Unter solchen Gedanken suchte der Lehrling seine Mutter auf. »Mutter, wir sind reich. Der Schmied von Pont de Pîle hat mich in die Lehre genommen. In drei Tagen fange ich an. Ohne Euch befehlen zu wollen, Mutter: gebt mir einen Sack voll Brot und eine Flasche Wein. Ich muß eine Reise machen, und die Abreise eilt, damit ich zur rechten Zeit zurück bin.« »Hier, mein Freund. Der liebe Gott und die heilige Jungfrau mögen dich vor allem Übel bewahren!«

Der Lehrling nahm Abschied von seiner Mutter und tat, als ob er abreisen wolle. Aber er versteckte sich ganz im geheimen in der Nähe des Hauses des Schmiedes von Pont de Pîle in einem Strohschober, wo er alles sehen und hören konnte, ohne selber gesehen und gehört zu werden. Bei Sonnenuntergang schloß der Schmied von Pont de Pîle seine Werkstatt. Aber der Lehrling traute ihm nicht. Er hielt die Augen und die Ohren offen. Als die Sterne die elfte Stunde zeigten, öffnete der Schmied von Pont de Pîle ganz leise[262] die Tür seines Hauses und blickte umher, ob niemand ihn beobachtete. Dann ahmte er den Ton der Grille nach. »Cri, cri, cri, komm, meine Tochter, komm, Schlangenkönigin! Cri, cri, cri!« »Vater, da bin ich!« Die Schlangenkönigin war lang und dick wie ein Sack Korn und trug eine schwarze Lilienblüte auf dem Kopf. Der Vater und die Tochter liebkosten einander und bedeckten sich gegenseitig mit Küssen. »Nun, Vater, habt Ihr einen Lehrling?« »Kind, in drei Tagen werde ich einen haben. Er ist der Sohn einer Witwe aus La Côte. Er ist stark, geschickt und mutig.« »Vater, ich habe ihn gesehen. Ich liebe ihn.« »Gut, mein Kind, ich will euch verheiraten, wenn er alt genug dazu ist. Jetzt geh. Mitternacht ist nahe und ich habe höchste Zeit, mich fertigzumachen.« Die Schlangenkönigin ging. Dann begab sich der Schmied von Pont de Pîle zum Ufer des Gersflusses auf eine Wiese, die von Eschen, Pappeln und Weiden umsäumt war. Der Lehrling war aus dem Strohhaufen herausgekrochen. Er folgte leise, leise seinem Meister, und verbarg sich hinter den Bäumen. Der Schmied von Pont de Pîle zog sich nackt wie ein Wurm aus und versteckte seine Kleider in einer hohlen Weide. Dann streifte er seine Haut vom Kopf bis zu den Füßen ab und erschien als ein großer Otter. »Ich will meine Menschenhaut verstecken,« sagte er, »wenn ich sie nicht wiederfinde, um sie bei Tagesanbruch anziehen zu können, so müßte ich für immer ein Otter bleiben.« Er versteckte seine Menschenhaut in einer hohlen Weide und sprang in den Gers, gerade in dem Augenblick, da die Sterne Mitternacht zeigten. Der Lehrling sah ihn schwimmen, auf den Grund des Wassers tauchen und mit einem Karpfen oder einem Aal im Maule wiederkommen, die er im Mondlicht verzehrte. So ging es fort, bis der Tag dämmerte. Dann stieg der Schmied von Pont de Pîle aus dem Wasser, zog seine Menschenhaut und seine Kleider wieder an und kehrte heim ohne zu ahnen, daß er beobachtet worden war. Der Lehrling versteckte sich wieder in seinem Strohhaufen. Während zwei weiterer Nächte sah und hörte er dasselbe, was er in der ersten Nacht gesehen und[263] gehört hatte. »Gut,« sagte er, »mein Meister ist der Vater der Schlangenkönigin. Jede Nacht kommt sie, um ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen. Die Schlangenkönigin ist verliebt in mich und will mich heiraten, wenn ich alt genug dazu bin. Mein Meister ist verflucht, sich jeden Abend in einen Otter zu verwandeln von Mitternacht bis Tagesanbruch. Alles das ist gut zu wissen, aber man darf es nicht sagen.«

Am Morgen des dritten Tages trat der Lehrling in die Werkstatt wie ein Blöder, der nichts gesehen und gehört hat, ein. »Guten Tag, Meister! Ich will meine Lehrzeit antreten.« Die Lehre begann also. Mit fünfzehn Jahren konnte der Lehrling schon mehr als der Meister. Aber er tat, als wäre er nicht so geschickt, denn er fürchtete, den Schmied von Pont de Pîle neidisch zu machen.

Eines Abends sagte der Meister zum Lehrling: »Höre! In drei Monaten wird der Marquis von Fimarcon seine älteste Tochter mit dem König der Meeresinseln verheiraten. Die Braut braucht eine Menge Schmuck. Ich habe den Auftrag dazu erhalten. Morgen früh wirst du vorausreisen und die Werkzeuge mitnehmen. Im Schloß von Lagarde wird es dir nicht an Gold und Silber noch an Diamanten und Edelsteinen fehlen. Schmiede und richte, so gut du kannst. Mach den gröberen Teil der Arbeit. Einen Monat vor der Hochzeit werde ich dort sein und nachsehen, ob alles gut geht, und ich werde eine Menge Dinge vollenden, die du niemals wirst arbeiten können.« »Meister, ich gehorche Euch!« Am andern Tag in der Frühe kam der Lehrling mit seinem Werkzeug in das Schloß von Lagarde. Gleich nach dem Frühstück machte er sich an die Arbeit. Es fehlte ihm nicht an Gold und Silber noch an Diamanten und Edelsteinen. »O Meister,« dachte er, »die Zeit ist nahe, da du erkennen sollst, ob es wirklich eine Menge Dinge gibt, die ich niemals werde arbeiten können.« Und der Lehrling schmiedete Gold und Silber. Er richtete die Diamanten und Edelsteine her. Niemals zuvor sah man so viele und so schöne Ringe, Halsketten und Ohrgehänge, und niemals wird man solches wieder sehen. Herr und Diener[264] lobten im Schlosse von Lagarde unausgesetzt den Lehrling mit Ausnahme der jüngsten Tochter des Marquis von Fimarcon, eines kleinen Fräuleins, welches schön war wie der Tag und züchtig wie eine Heilige. Indessen sah sie dem Lehrling vom Morgen bis Abend bei seiner Arbeit zu.

Endlich hub das kleine Fräulein eines Tages, da sie allein waren, zu reden an: »Lehrling, lieber Lehrling, du machst da recht schöne Sachen für meine ältere Schwester. Würdest du noch besser arbeiten, wenn das für eine andere Jungfrau wäre? Sage es mir!« »Ja, kleines Fräulein, wenn ich eine Liebste hätte, so würde ich für sie eine goldene Halskette machen, die nicht ihresgleichen hat.« »Lehrling, lieber Lehrling, wie würde diese goldene Halskette aussehen, die nicht ihresgleichen hat? Sage es mir!« »Für meine Liebste, kleines Fräulein, würde ich eine goldene Halskette fertigen, eine schöne Halskette von gelbem Gold und strahlend wie die Sonne. Diese Halskette würde ich glühend aus der roten Esse nehmen und würde sie in einer Schale mit meinem Blute härten. Wenn die Härtung fertig ist, werde ich sie wieder in die rote Esse werfen, indes meine Liebste sich bis zum Gürtel entblößt. Dann werde ich ihr die schöne goldene Halskette um den Hals legen und sie wird sich fest mit ihrem Fleische verbinden, so fest, daß weder Gott noch Teufel sie werden abreißen können. Kraft dieser schönen Halskette wird meine Liebste keinem anderen gehören als mir und an keinen anderen denken als an mich. Solange es mir gut geht, wird die schöne goldene Halskette gelb bleiben. Wenn aber das Unglück über mir ist, wird sie rot werden wie Blut. Dann hat meine Liebste drei Tage Zeit, um sich fertigzumachen. Sie muß zu ihren Eltern sagen: ›Ich werde sterben. Begrabt mich im Hochzeitskleid mit einem Schleier und einem Kranze von Orangenblüten auf dem Kopf und mit einem Strauße von weißen Rosen am Gürtel.‹ Am dritten Tage wird sie einschlafen. Jedermann wird glauben, sie sei tot. Dann wird man sie in diesen Gewändern begraben und weiter schlafend wird sie weiter leben, solange als das Unglück über mir ist.[265] Wenn ich sterbe, so ist sie verloren. Wenn aber das Unglück nicht mehr über mir ist, so werde ich kommen, sie zu wecken, und dann werden wir uns heiraten.« »Lehrling, lieber Lehrling, schmiede mir diese schöne goldene Halskette!« In sieben Stunden war die schöne Halskette von gelbem Golde fertig und strahlte wie die Sonne. Dann warf sie der Lehrling in die rote Esse, zog sein Messer und brachte sich einen Schnitt am Arme bei; darauf ließ er sein Blut in eine Schale tropfen und härtete darin die schöne goldene Halskette, bis die Härtung vollendet war. Hierauf warf er sie wieder in die rote Glut und blies stark und ausdauernd, indes das kleine Fräulein sich bis zum Gürtel entblößte. Nun legte er ihr die schöne goldene Halskette um den Hals und sie wuchs mit dem Fleische zusammen, so fest, daß weder Gott noch Teufel sie hätten abreißen können. »Lehrling, lieber Lehrling, ich bin deine Liebste. Jetzt werde ich kraft dieser schönen goldenen Halskette keinem anderen gehören als dir und an keinen anderen denken als an dich.« Das kleine Fräulein ging wieder auf sein Zimmer. Weder ihre Eltern noch ihre Diener erfuhren jemals, was mit ihr vorgegangen war.

Am nächsten Morgen kam der Schmied von Pont de Pîle. »Guten Tag, Meister!« »Guten Tag, Lehrling! Du bist nun seit zwei Monaten am Werk. Ich komme, um zu sehen, ob alles gut geht, und um eine Menge Dinge zu vollenden, die du niemals wirst arbeiten können.« »Da seht, Meister!« Und der Lehrling zeigte das geschmiedete Gold und Silber und die bearbeiteten Diamanten und Edelsteine, die schönen Ringe, Halsketten und Ohrgehänge. Der Schmied von Pont de Pîle begann zu lachen. »Lehrling, ich kann dich nichts mehr lehren. Du kannst mehr als ich. Jetzt bist du frei und kannst dich auf eigene Rechnung niederlassen. Aber du würdest mir einen Gefallen erweisen, wenn du noch drei Monate in meiner Werkstatt bliebest.« Dann gingen der Schmied von Pont de Pîle und der Lehrling zum Marquis von Fimarcon. »Guten Tag, Marquis von Fimarcon!« »Guten Tag, liebe Freunde! Was wollt ihr von mir?« »Marquis von Fimarcon,« sagte[266] der Schied von Pont de Pîle, »wir haben hier nichts mehr zu schaffen. Mein Lehrling hat besser gearbeitet, als ich selber es hätte tun können. Ihn müßt Ihr auszahlen.« »Nimm, Lehrling, da sind tausend Louisdor.« »Marquis von Fimarcon, ich will keinen Lohn. Wenn diese tausend Louisdor Euch lästig sind, so gebt sie den Armen!« Beide verabschiedeten sich vom Marquis von Fimarcon und kehrten nach Pont de Pîle zurück.

Sieben Tage darauf sagte der Meister zum Lehrling: »Lehrling, heute ist Jahrmarkt in Condom. Wir müssen früh dort sein. Trinken wir einen Schluck und dann auf den Marsch!« »Euer Wohl, Meister!« »Auf das deinige, Lehrling!« Aber der Schmied von Pont de Pîle hatte ein Schlafpulver in den Wein getan, das war so stark, so stark, daß der Lehrling auf der Stelle umfiel und einschlief wie ein Stock. Dann fesselte ihn der Schmied von Pont de Pîle an Händen und Füßen mit Tauen und Ketten. Er stopfte ihm den Mund mit einem Lappen zu. Als der Lehrling erwachte, flammte die Esse wie das höllische Feuer, und der Schmied von Pont de Pîle feilte die Zähne einer neuen Säge aus. »Lehrling, Schuft von einem Lehrling, du hast mehr können wollen als dein Meister. Jetzt bist du in meiner Gewalt. Niemand wird kommen und dich erlösen. Wenn du nicht gehorchst, wirst du Tod und Passion erleiden. Willst du meine Tochter, die Schlangenkönigin, heiraten?« Der Mund des Lehrlings war durch den Knebel verschlossen. Er schüttelte den Kopf, um zu verneinen. Da nahm der Schmied von Pont de Pîle seine neue Säge. Er sägte langsam, ganz langsam den linken Fuß des Lehrlings ab und verbrannte ihn in der Esse. »Lehrling, willst du meine Tochter, die Schlangenkönigin, heiraten?« Der Lehrling schüttelte den Kopf, um zu verneinen. Da nahm der Schmied von Pont de Pîle wieder seine neue Säge. Er sägte langsam, ganz langsam den rechten Fuß des Lehrlings ab und verbrannte ihn in der Esse. »Lehrling, willst du meine Tochter, die Schlangenkönigin, heiraten?« Der Lehrling schüttelte den Kopf, um zu verneinen. Da begriff[267] der Schmied von Pont de Pîle, daß er Zeit und Mühe vergeudete. Er warf den Lehrling auf einen Karren, deckte ihn mit Stroh zu und peitschte sein Pferd, daß es schnell wie der Blitz davonraste.

Bei Sonnenuntergang waren sie weit, sehr weit, weit über die Ebenen hinaus, über das Land der Tannen und des Fichtenharzes hinaus. Sie waren am Ufer des Meeres, im Lande der Schlangen, wo die Tochter des Schmiedes von Pont de Pîle herrschte. Dort war ein Turm ohne Dach, ohne Türen und ohne Fenster mit einer Wasserlache in der Mitte. Der Turm war hundert Klafter hoch. Die Mauer war aus so hartem Stein gebaut und mit so dauerhaftem Mörtel gearbeitet, daß Haue und Pulver ihr nichts anhaben konnten. Nur die Schlangenkönigin konnte durch ein Loch aus- und eingehen, das sich unmittelbar darauf wieder schloß. Der Schmied von Pont de Pîle und die Schlangenkönigin riefen die großen Adler des Gebirges herbei. »Große Adler des Gebirges, hört! Hört wohl zu, damit ihr Punkt für Punkt das ausführen könnt, was euch aufgetragen wird. Nehmt diesen Taugenichts und tragt ihn in den Turm! Bis er meine Tochter, die Schlangenkönigin, heiratet, bleibt er dort eingesperrt. Er soll auf dem Boden schlafen mit dem Himmel als Dach. Wenn ihn dürstet, soll er aus der Pfütze trinken. Aber an Eisen, Gold und Silber soll es ihm nicht fehlen, auch nicht an Diamanten und Edelsteinen. Seine ganze Arbeit werdet ihr mir bringen. Wenn er es hundertmal verdient hat, sollt ihr ihm einen Brocken Brot, schwarz wie ein Herd und bitter wie Galle, herabwerfen.« Die großen Adler des Gebirges gehorchten.

Sieben Jahre lang blieb der Lehrling allein im Turm, er lag auf der Erde mit dem Himmel als Dach. Wenn ihn dürstete, trank er das Wasser der Pfütze. An Eisen, Gold und Silber fehlte es ihm nicht, auch nicht an Diamanten und Edelsteinen. Seine ganze Arbeit brachten die großen Adler des Gebirges dem Schmied von Pont de Pîle. Wenn der Lehrling es hundertmal verdient hatte, warfen sie ihm einen[268] Brocken Brot, schwarz wie ein Herd und bitter, bitter wie Galle, herab. Indessen arbeitete der Lehrling nicht ständig für seinen Meister. Hinter seinem Amboß hatte er ein tiefes Loch gegraben, darin versteckte er die Dinge, die er für sich schmiedete, ohne daß die großen Adler des Gebirges es gewahrten. Er schmiedete zunächst eine Axt von feinem Stahl, eine breite und wohl zugeschliffene Axt. Dann schmiedete er sich einen eisernen Gürtel, einen eisernen Gürtel versehen mit drei Haken. Darauf schmiedete er sich ein paar Füße aus Gold, die waren so gut gemacht, so wohl angepaßt wie seine eigenen Füße von Fleisch, die ihm der Schmied von Pont de Pîle abgesägt und verbrannt hatte. Zuletzt schmiedete er sich ein Paar große Flügel, die waren leicht, so leicht wie eine Feder. Diese Arbeit dauerte sieben Jahre.

Jeden Abend bei Sonnenuntergang kam die Schlangenkönigin in den Turm durch das Loch, das sich nur für sie öffnete und unmittelbar nach ihr wieder schloß. »Lehrling, deine Qual wird enden, sobald ich deine Frau bin.« »Geh, Schlangenkönigin, ich habe eine andere Liebste. Niemals, niemals werde ich tauschen.« Diese Worte redeten sie jeden Abend miteinander. Aber als alles fertig war, sprach der Lehrling anders. »Lehrling, deine Qual wird enden, sobald ich deine Frau bin.« »Komm, komm, Schlangenkönigin, ich verzichte auf meine Liebste. Niemals, niemals wieder will ich an sie denken.« Die Schlangenkönigin legte sich zur Seite des Lehrlings auf den Boden und sie umarmten einander und plauderten von Liebe bis zum Aufgang der Sonne. »Lehrling, deine Qual soll enden. Bald bin ich deine Frau. Leb wohl! Heute abend, wenn die Sonne sinkt, komme ich wieder.« »Leb wohl, Schlangenkönigin. Die Zeit wird mich lang dünken.« Abends, eine Stunde vor Sonnenuntergang, dachte der Lehrling: »Jetzt werde ich lachen!« Er nahm seine Axt von feinem Stahl, seine breite und wohlgeschliffene Axt. Er schnallte sich seinen eisernen Gürtel um, seinen eisernen Gürtel, der mit drei Haken versehen war, und legte seine goldenen Füße an. Hierauf drückte er sich gegen die Mauer[269] und stand Posten, gerade neben dem Loch, durch welches die Schlangenkönigin jeden Abend in seinen Turm kam. Als die Schlangenkönigin eintrat, stellte ihr der Lehrling flugs den Fuß auf den Hals. Sie kehrte sich zischend um, aber sie biß nur in seine Goldfüße. Mit einem Axthieb trennte ihr der Lehrling den Kopf vom Rumpf und hängte ihn an seinen eisernen Gürtel. Dann zog er seine großen Flügel an, die waren leicht, so leicht wie eine Feder, und er stieg bis zur Höhe des Turmes. Die Nacht fiel ein. Der Lehrling betrachtete den Himmel, um sich zurechtzufinden und um seinen Weg nach den Sternen zu richten. Plötzlich begann er zu fliegen und flog hundertmal schneller als eine Schwalbe.

Schließlich machte er auf dem Dache des Hospitals von Lectoure halt, von wo aus er auf den Weiler La Côte, auf die Häuser von Pont de Pîle und auf den Gersfluß herabblicken konnte. Auf allen Türmen der Stadt hörte er die elfte Stunde schlagen. Er blickte gegen Pont de Pîle und sah im Mondlicht, wie der Schmied sein Haus verließ, um sich in einen Otter zu verwandeln und bis zur Morgendämmerung im Gers zu bleiben. Er wartete bis zum letzten Schlag der Mitternachtsstunde. Dann ließ sich der Lehrling hundertmal schneller als eine Schwalbe zur hohlen Weide hinab, in welcher der Schmied von Pont de Pîle allnächtlich seine Menschenhaut zu verbergen pflegte. Im Nu hing die Menschenhaut an einem Haken seines eisernen Gürtels, und er selber schwebte hundert Klafter hoch über dem Gersfluß. »Ho! Schmied von Pont de Pîle! Ho! Ho! Ho!« »Was willst du von mir, großer Vogel?« »Schmied von Pont de Pîle, ich bringe dir Nachricht von deiner Tochter, Nachricht von der Schlangenkönigin!« »Rede, großer Vogel!« »Ein großer Vogel bin ich nicht. Ich bin dein Lehrling. Sieben Jahre lang habe ich Tod und Passion gelitten in einem Turm am Ufer des großen Meeres. Schmied von Pont de Pîle, du willst Nachricht von deiner Tochter, Nachricht von der Schlangenkönigin. So höre! Deine Tochter ist in zwei Stücke zerschnitten, ihr Kopf und ihr Rumpf hängen an meinem[270] eisernen Gürtel. Da! Lies sie auf im Gers und versuche sie zusammenzuflicken!« Der Schmied von Pont de Pîle schrie auf wie ein Seeadler. »Schmied von Pont de Pîle, du hast noch nicht genug gebüßt. Suche deine Menschenhaut in der hohlen Weide. Suche sie, mein Freund! Suche sie gut! Ich habe sie an meinem eisernen Gürtel hängen. Und nun bleibst du ein Otter für ewig.« Der Schmied von Pont de Pîle tauchte in den Gers. Niemals, niemals sah man ihn wieder.

Dann flog der Lehrling davon, hundertmal schneller als eine Schwalbe, zum Häuschen seiner Mutter. »Poch, poch!« »Wer klopft?« »Mach auf, Mutter!« »Jesus Maria! Du bist es, mein Sohn. Sieben Jahre lang habe ich auf dich gewartet!« »Mutter, ich habe nicht Zeit gehabt, früher zu kommen. Ich freue mich zu sehen, daß der liebe Gott und die heilige Jungfrau Euch gesund erhalten haben. Jetzt, Mutter, bin ich imstande, schwer zu verdienen. Ihr sollt nur mehr arbeiten, was Euch gefällt. Ohne Euch befehlen zu wollen, Mutter, zündet das Feuer an! Macht den Rost warm und stellt einen Brocken Brot auf den Tisch mit einer Maß Wein. Ich bringe Fleisch, es hängt am Haken meines Gürtels.« »Jesus Maria, mein Sohn! Das ist ja die Haut eines Christenmenschen!« »Mutter, das ist die Haut des Schmieds von Pont de Pîle. Er war nicht vom Stamme der Christen. Niemals, wiemals werdet Ihr ihn wiedersehen.« Eine Stunde später war die Haut gekocht und gegessen. »Und nun, Schmied von Pont de Pîle, versuche, ob du deine Haut in meinem Bauche findest!«

Dann zog der Lehrling sein Paar große Flügel wieder an, die waren so leicht, so leicht wie eine Feder, und er flog davon, hundertmal schneller als eine Schwalbe. In fünf Minuten war er vor der Tür der Schloßkapelle von Lagarde, in welcher seine Liebste bestattet war und schlief. Mit einem Stoß seiner Schulter drückte er die Türe ein. Darauf entzündete er eine Kerze an der Lampe, die Tag und Nacht zu Ehren des heiligen Sakramentes brennt; wie einen Kork[271] so leicht hob er die Steinplatte der Gruft auf, sprang hinein und riß den Deckel vom Sarge seiner Liebsten. »Ho! Kleines Fräulein, steht auf! Sieben Jahre lang habt Ihr geschlafen!« »Du bist es, lieber Lehrling! Das Unglück ist also nicht mehr über dir! Da, schau! Ich habe alles getan, was du mich geheißen hattest. Ich trage mein Hochzeitskleid mit dem Schleier und den Kranz von Orangenblüten auf dem Kopf und den Strauß von weißen Rosen am Gürtel.« »Kleines Fräulein, steht auf!« Das kleine Fräulein erhob sich. Der Lehrling trug sie in die Kapelle, und dort beteten sie lange zu Gott. »Kleines Fräulein, es wird Tag. Geht auf Euer Zimmer und bleibt dort, bis ich Euch rufe!« »Lieber Lehrling, ich gehorche dir.« Das kleine Fräulein ging auf sein Zimmer.

Darauf trat der Lehrling vor den Schloßherrn. »Guten Tag, Marquis und Marquise von Fimarcon. Erkennt ihr mich?« »Nein, mein Freund, wir erkennen dich nicht!« »Schade. Ich bin der Lehrling des Schmiedes von Pont de Pîle. Vor sieben Jahren habe ich zwei Monate lang bei euch gearbeitet, als eure älteste Tochter den König der Meeresinseln heiratete.« »Das stimmt, Lehrling. Jetzt erkennen wir dich!« »Marquis und Marquise von Fimarcon, ihr hattet eine jüngere Tochter, ein kleines Fräulein von dreizehn Jahren. Jetzt ist sie wohl mit irgendeinem Fürsten verheiratet?« »Lehrling, unsere jüngste Tochter ist im Himmel. Vor sieben Jahren hat sie uns der liebe Gott genommen. Wir haben sie begraben, wie sie es uns geheißen hatte, in ihrem Hochzeitskleid mit dem Schleier und einem Kranz von Orangenblüten auf dem Kopf und einem Strauß weißer Rosen am Gürtel.« »Marquis und Marquise von Fimarcon, schwört mir bei eurer Seele und bei Strafe der Verdammnis, daß ihr mir eure jüngste Tochter zur Frau geben wollt, wenn ich sie euch lebend wiedergebe.« »Bei unserer Seele und bei Strafe der Verdammnis.« »Marquis und Marquise von Fimarcon, ruft schnell den Pfarrer! Ich will eure Tochter holen!« Der Lehrling führte das kleine[272] Fräulein herein. Man verehelichte sie am gleichen Morgen und die Hochzeit dauerte vierzehn Tage. Der Lehrling und seine Frau lebten lange glücklich und sie bekamen zwölf Buben. Der älteste war sehr stark und der schönste von allen. Aber er hatte den Leib mit feinen Härchen bedeckt, welche zart und gelblich waren wie die eines Otter. Das kam daher, weil der Vater am Hochzeitstage die Haut des Schmiedes von Pont de Pîle, auf dem Rost gebraten, gegessen hatte.

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CCLX260-CCLXXIII273.
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