Die Messe des Gespenstes

[219] In einer Allerseelennacht schlief eine Frau in der Kirche von Plévenon ein, und der Küster, der sie nicht gesehen hatte, versperrte die Türen. Als sie erwachte, war sie sehr erstaunt, sich um diese Zeit in der Kirche zu finden. Aber eine noch größere Überraschung stand ihr bevor. Um Mitternacht erblickte sie einen Priester, der in seinen Meßgewändern zum Altar trat, dessen Kerzen sich von selbst entzündeten. Nachdem er sich vor dem Altar verneigt hatte, wandte er sich gegen das Schiff der Kirche und sagte dreimal: »Ist hier jemand, der mir zur Messe dienen will?« Die Frau konnte vor Angst kein Wort herausbringen und der Priester kehrte in die Sakristei zurück, während die Kerzen verlöschten. Sobald die Kirche geöffnet wurde, lief die Frau ins Pfarrhaus und erzählte dem Geistlichen, was sie gesehen und gehört habe. »Seid Ihr dessen ganz sicher?« sagte der Pfarrer. »Wenn das wahr ist, was Ihr da sagt, so könnt Ihr einer armen Seele einen hervorragenden Dienst erweisen. Geht wieder in die Kirche und nehmt Euren Knaben mit, der noch keine zehn Jahre zählt, dieser soll ihm zur Messe dienen, und wenn sie aus ist, wird ihn der Priester fragen, was er für seine Mühe verlange. Dann müßt Ihr ihm raten, daß er sagt: ›Ich verlange das Himmelreich!‹«

In der folgenden Nacht wurde die Frau samt ihrem Knaben in der Kirche eingeschlossen. Um Mitternacht kam der Priester wieder wie in der Nacht zuvor und fragte mit langsamer und tiefer Stimme: »Ist hier jemand, der mir zur Messe dienen will?« »Ich will es!« erwiderte der Knabe und trat näher. »Du, mein Kind? So komm her!« Der kleine Knabe diente zur Messe, und als sie beendet war, wandte sich der Priester[219] um und sprach: »Du hast mir einen großen Dienst erwiesen, denn seit fünfundzwanzig Jahren komme ich jede Nacht hierher; nun aber bin ich mit deiner Hilfe erlöst. Was verlangst du zum Lohn, mein Kind?« »Das Himmelreich!« antwortete der Knabe. »In drei Tagen sollst du darinnen sein.« Und am dritten Tage starb der Knabe.

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CCXIX219-CCXX220.
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