63. Wie die Schwalben ihre weiße Farbe verloren.

Aus Frankreich.


Gott schuf einst zwei schöne Vögel, mit herrlich weißem Gefieder, und sagte zu ihnen: ›Ich nenne euch Schwalben. Ihr und eure Nachkommen sollt meinen Segen überall hintragen und den Menschen die schöne, warme Jahreszeit verkünden, die Blumen und Früchte bringt. Baut eure Nester unter den Dächern der Wohnungen, sie sollen Zeichen des Glückes sein.‹

Die Schwalben breiteten ihre Flügel aus und flogen auf die Erde.

Da wurde dort alles ganz anders als zuvor. Der kalten, öden Zeit folgten helle, freundliche Tage mit warmen, linden Lüften, und wo die Schwalben einkehrten, verschwanden auch die Krankheiten.

So blieb es mehrere Jahre. Die Menschen waren glücklich, und der schönen weißen Vögel wurden mehr und mehr.

Da zerstörte eines Tages ein finsterer, böser Mann das Schwalbennest unter dem Dach seines Hauses; andere Taugenichtse waren auch dabei, und sie lachten, wie die eben ausgeschlüpften Jungen herunterfielen.[80]

Als den Gottesvögeln solche Grausamkeit widerfuhr, entflohen sie zum Himmel. Aber indem die letzte Schwalbe verschwand, wurde es wieder Winter, und die Menschen wurden bald ihr Unglück gewahr. Da baten sie Gott, er möge sie nicht alle für das Verbrechen dieses einen bestrafen, und Gott erhörte ihre Bitte, und mit den Schwalben kam auch die schöne Jahreszeit wieder.

Es gab aber ein paar schlechte Menschen, die fürchteten, daß die Boten des Frühlings doch noch einmal wegfliegen würden, und eines Nachts, als die Schwalben schliefen, fingen sie sie und sperrten sie in einen großen Turm.

Am nächsten Morgen sahen die armen Schwälbchen, daß sie gefangen waren, stießen jämmerliche Schreie aus und schlugen mit Flügeln und Schnäbeln an die Wände, um ihre Freiheit wieder zu gewinnen. Doch es kam noch schlimmer. Die Wächter, die die Vögel bewachen sollten, wurden ihres Geschäftes überdrüssig und rissen den Vögeln die Flugfedern aus. Die armen Tiere klagten, wie sie ihre weißen Federn vom Turm herunterfliegen sahen, aber die Wächter lachten dazu.

Da verwandelten sich die Federn auf einmal in dichte, weiße Flocken, die die Wächter einhüllten. Der Nordwind blies, Gras und Blumen verwelkten, die Bäume verloren ihre Blätter, und die Erde gefror. Die Menschen wurden voll Schnee und flüchteten sich in ihre Wohnungen.

Plötzlich brach ein Orkan aus, der rüttelte an dem Turm, bis sich ein Spalt öffnete. Den Schwalben aber waren die Federn wieder gewachsen, und sie flogen zum Himmel.[81]

Zum zweitenmal baten die Menschen Gott um Gnade, und er verzieh ihnen, doch durften die Schwalben seitdem nur sechs Monate bei ihnen bleiben, und ihr Gefieder wurde schwarz zur Erinnerung an die Bosheit der Menschen.[82]

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Naturgeschichtliche Märchen. 7. Aufl. Leipzig/Berlin: 1925, S. 76-77,80-83.
Lizenz:
Kategorien: