[250] 14. Alexander von Makedonien.

Kremos hörte als Kind aus dem Munde eines alten parnasischen Hirten eine ausführliche und sehr gut vorgetragene Erzählung der Thaten und Schicksale Alexanders des Grossen, erinnerte sich aber genau nur noch des oben mitgetheilten Bruchstücks, welches ich dieser Sammlung nicht vorenthalten wollte, weil es vielleicht manchem von Interesse ist zu erfahren, dass und wie ungefähr die litterarisch so weit verbreitete Alexandersage mündlich unter dem griechischen Volke fortlebt. Uebrigens stimme ich durchaus der Bemerkung Zacher's Pseudocallisth. S. 3 bei, dass die Alexandersage schon im Entstehen und in der ersten Entwicklung durch Absicht und Gelehrsamkeit mehrfach beeinflusst und bedingt worden und demnach keine reine Volkssage ist; man kann E. Rohde Der griechische Roman und seine Vorläufer (Leipzig 1876), S. 184 bereitwillig zugeben, ›dass der wesentliche Inhalt dieses seltsamen Romans nicht der Willkür eines Einzelnen entsprungen ist‹, ohne doch darum in ihm eine ›ächte Volksdichtung‹ zu erkennen. Die mündliche Ueberlieferung der Sage unter den heutigen Griechen nun geht wohl nicht unmittelbar auf das Werk des Pseudocallisthenes zurück, sondern vielmehr auf eine vulgärgriechische Bearbeitung des selben, wie deren mehrere in Prosa und in Versen bekannt und zum Theil im Druck erschienen sind (s. Zacher a.a.O. S. 31. Vgl. auch Kapp i.d. oben S. 237 angef. Pr. S. 44, und Bartholdy Bruchstücke zur nähern Kenntniss des heutigen Griechenlands, S. 430). Unser Text, im Allgemeinen begreiflicher Weise viel einfacher und summarischer als die Erzählung des Pseudocallisthenes, stimmt doch in manchen Einzelheiten ziemlich genau – abgesehen von der chronologischen Folge der Begebenheiten – mit derselben überein, aber nicht durchgängig mit der nämlichen Recension, sondern bald mit dieser bald mit jener, so dass man annehmen muss, dass die vulgärgriechische Bearbeitung, auf welcher die Erzählung des Hirten nach meiner Meinung beruht, eklektisch verfahren ist, oder dass in der mündlichen Verbreitung der Sage eine Vermischung der verschiedenen Vorlagen stattgefunden hat. Wenn es z.B. in unsrem Texte heisst, dass Alexander auf seinem Zuge Menschen fand, welche Flügel und nur einen Fuss hatten, so geht das offenbar auf die durch die Hs. C repräsentirte Redaction zurück, in welcher erzählt wird, dass Alexander in einer[250] wüsten Gegend (allerdings nach der Rückkehr aus der Finsterniss) kleine Menschen mit einem Beine und Schafschwänzen traf (s. Zacher S. 142). Dagegen in der Erwähnung der Menschen mit Hundsköpfen stimmt unsre Erzählung vielmehr mit den Hss. ALB überein, welche III, 28 κυνοκεφάλουc bieten, während C ἀκεφάλουc und in Uebereinstimmung damit V homines absque capitibus gibt (vgl. Zacher S. 168). Manches, wofür es im Pseudocallisthenes an einer Analogie fehlt, wird sich in der mündlichen Tradition ausgebildet haben. So gleich der Anfang, welchem eher eine dunkle Erinnerung an den Zug des Xerxes gegen Griechenland zu Grunde liegen mag, als die Erzählung des Pseudocallisthenes. Auch kommt meines Wissens in keiner Redaction des letzteren der Zug vor, dass Alexander von seiner Mutter verflucht wird, weil er sie verlassen hat und nicht wieder in sein Vaterland zurückkehren will.

In der Erzählung des Hirten war, wie mein Berichterstatter noch hinzufügte, auch vom Hinabsteigen Alexanders auf den Meeresgrund (vgl. Zacher S. 140) und von seiner wunderbaren Geburt (vgl. Zacher S. 115: ›Erdbeben und Blitze begleiten Alexanders Geburt‹) die Rede; dass dagegen Alexander nicht Sohn Philipps, sondern des Nectanebo gewesen, davon wusste der Hirt, so weit Kremos sich erinnerte, nichts.

Kremos versicherte mir, dass überhaupt sehr viele Erzählungen von Alexander im Volksmunde umlaufen. Dasselbe bezeugt Politis Μελέτη I, S. 62. Dass die Alexandersage hie und da selbst den lebendigen Volksaberglauben beeinflusst hat, zeigt die auf der Insel Kephalonia bestehende Vorstellung, wonach die Gebieterin der Neraïden die ›Schwester des Königs Alexander‹ ist (Volksl. I, S. 107. Vgl. auch S. 125). Endlich mag hier noch erwähnt werden, dass zu Tournefort's Zeiten an eine Inschrift am Eingange der bekannten Stalaktitengrotte von Autiparos (C.I. Gr. II, Nr. 2399) die Bewohner dieses Eilandes die seltsame Ueberlieferung knüpften, dass diese Inschrift die Namen der Verschworenen gegen das Leben Alexanders des Grossen enthalte, welche nach dem Misslingen ihres Anschlags hierher sich geflüchtet hätten (Tournefort Relation d'un voyage du Levant I, S. 224 der zu Lyon i.J. 1717 erschienenen Ausgabe); eine Ueberlieferung, zu deren Entstehung jedenfalls der Umstand geführt hat, dass unter den in der Inschrift aufgezählten Eigennamen auch ein Antipater sich befindet. Denn bereits im sechsten Jahre nach Alexanders Tode war die Sage aufgekommen, dass der grosse König auf Anstiften seines Feldherrn Antipater von dessen Sohne vergiftet worden sei (Plut. Alex. 77. Arrian. VII, 27. Diodor. XVII, 118. Vgl. Droysen Geschichte des Hellenismus I, S. 705 f.), und dieser in der Folge mehr und mehr verbreiteten Meinung ist Pseudocallisthenes (III, 31 Müll.) gefolgt.

Quelle:
Schmidt, Bernhard: Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig: Teubner, 1877, S. 250-251.
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