[241] 3. Der Vogel Gkión.

Das Wort γκιών oder γκιώνηc bezeichnet eine kleine Eulenart und ist offenbar identisch mit dem albanesischen γjοννέ oder γjον, über welches[241] s. G. Stier in Kuhn's Zeitschrift für vergl. Sprachforschung B. ΧI, 1862, S. 220. Die letztere Form kommt vor in der albanesischen Erzählung bei Hahn Märchen Nr. 104, welche überhaupt Verwandtschaft mit unsrer Sage hat. Es heisst daselbst: ›Der Gjon und die Kjükje waren Bruder und Schwester und hatten noch einen Bruder, der gleichfalls Gjon hiess. Einst trat dieser zu seiner Schwester, als diese gerade mit ihrer Scheere hantierte; sie war aber so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihn nicht bemerkte. Da fuhr sie plötzlich mit ihrer Scheere aus, und diese traf den Gjon grade ins Herz, so dass er daran sterben musste. Ueber seinen Tod betrübten sich aber seine Geschwister so sehr, dass der Gjon in den Vogel gleiches Namens, die Kjükje aber in den Kukuk verwandelt wurde, und von da an ruft der Gjon des Nachts seinen Bruder beim Namen: »Gjon! Gjon!", der Kukuk aber bei Tage: »Ku? Ku?", das heisst auf deutsch: wo bist du?‹ – Man wird bei diesen Erzählungen an die alte Sage von König Zethos' Gemahlin Aëdon erinnert, welche aus Versehen ihren Sohn Itylos tödtet, und die darauf Zeus aus Erbarmen in eine Nachtigall verwandelt, als welche sie beständig um den Verlorenen wehklagt (Hom. Odyss. XIX, 518 ff. Pherecyd. Fragm. 102 Müll.), und ferner an die Sage von Meleagros' Schwestern, die am Grabe ihres Bruders unaufhörlich weinen, bis Artemis sie in Perlhühner (μελεαγρίδεc) verwandelt, in welcher Gestalt sie eine bestimmte Zeit des Jahres hindurch um den Verstorbenen trauern (Antonin. Lib. 2).

Mythen von in Vögel verwandelten Menschen dürften überhaupt im heutigen Griechenland kaum minder häufig sein als im alten. Ausser den schon in der Vorrede S. 3, Anm. 1 und S. 10 berührten Erzählungen dieser Art führe ich hier noch an die von Carnarvon Reminiscences of Athens and the Morea (London 1869), S. 111 mitgetheilte Sage, die den soeben erwähnten altgriechischen noch näher steht: Here (in einem Walde unweit Tegea's) our Greeks were startled by a bird which flew across the road, and which they called ›kira‹ (d.i. offenbar κυρά, Herrin). That bird they said had once been a woman, who deprived of all her kindred by some great calamity, retired to a solitary mountain to bewail her loss, and continued on the summit forty days, repeating in the sad monotony of grief the lamentation of the country, ›Ah me! ah me!‹ till at the expiration of that period she was changed by pitying Providence into a bird. Ferner die von Newton in Kleinasien allerdings aus dem Munde eines Türken gehörte, ursprünglich aber höchst wahrscheinlich ebenfalls griechische Sage in den Travels and Discoveries in the Levant II, S. 263: The other day we heard a bird uttering a plaintive note, to which another bird responded. When Mehemet Chiaoux heard this note, he told us with simple earnestness, that once upon a time a brother and sister tended their flocks together. The sheep strayed, the shepherdess wandered on in search of them, till at last, exhausted by fatigue and sorrow, she and her brother were changed into a pair of birds, who go repeating the same sad notes. The female bird says, ›Quzumlari gheurdunmu‹, – ›Have you seen my sheep?‹ to which her mate replies: ›Gheurmedum‹, – ›I have not[242] seen them.‹ Endlich erwähne ich noch aus eigner Kunde, dass auf der Insel Zakynthos die Meereisvögel (altgriechisch ἀλκυόνεc) τὰ βαcιλόπουλα genannt werden, eine Bezeichnung, welche auf das Vorhandensein eines Verwandlungsmythos hinzuweisen oder wenigstens ein Nachhall der an diese Vögel sich knüpfenden hellenischen Sage zu sein scheint.

Quelle:
Schmidt, Bernhard: Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder. Leipzig: Teubner, 1877, S. 241-243.
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