[288] 57. Das Dohlenkind.

Es war einmal eine Frau, die bekam keine Kinder, und sprach einstmals in ihrem Kummer: »lieber Gott, ich wollte, ich hätte ein Kind, und wenn es auch nur eine Dohle wäre.« Da wurde ihr Leib gesegnet, und als ihre Zeit kam, gebar sie eine Dohle. Sie zog dieselbe auf wie ihre Tochter, und als sie herangewachsen war, sagte sie eines Tages zu ihrer Mutter: »Mutter, lade die schmutzige Wäsche auf den Esel, ich[288] will sie im Bach waschen.« Da belud die Mutter den Esel mit der Wäsche und die Dohle setzte sich oben auf und ritt zu dem ersten Bache; weil aber dort andere Weiber wuschen, ritt sie bis zu dem zweiten, und als sie sah, daß sie dort ganz allein war, da legte sie ihr Federkleid ab, und ward zu einem Mädchen von solcher Schönheit, daß der ganze Bach von ihr erglänzte.

Der Königssohn jagte aber in dieser Gegend gerade nach Hasen, und erblickte sie von einem Hügel. Da schlich er sich leise herbei und belauschte sie und sah, wie sie aus dem Wasser stieg, ihr Federkleid wieder anlegte und zur Dohle wurde. Darauf ging der Prinz zu seiner Mutter und sprach: »Gehe zu der Mutter der Dohle und halte bei ihr um ihre Tochter an, denn ich will sie heiraten.« Da ging die Königin hin und richtete ihren Antrag aus. Jene aber antwortete: »reicht es nicht hin, daß ich den Kummer habe, daß meine Tochter eine Dohle ist, und nun muß ich darüber noch Spott und Hohn von dir erfahren!« – Als die Königin das ihrem Sohne erzählte, schickte er sie von Neuem hin, und ließ der Mutter der Dohle sagen, daß es ihm Ernst mit seinem Antrage sei. Darauf erwiderte jene: »wenn es ihm wirklich Ernst ist, so soll er von meiner Haustüre bis zu seinem Schlosse einen Pfahlzaun machen lassen.« Darauf ließ der Königssohn einen solchen Zaun verfertigen und kam dann mit großem Gefolge, um die Dohle heimzuholen; diese aber hüpfte auf dem Zaune von Pfahl zu Pfahl bis in das Königsschloß, und als sie im Hochzeitssaale angekommen war, da fing sie an zu fliegen und flog auf einen Schrank. Der Prinz stellte sich neben diesen und machte vor den Gästen als Hochzeiter die Verbeugungen, wie es die Sitte vorschreibt, und so oft sich der Prinz verbeugte, so oft verbeugte sich auch die Dohle so tief, bis ihr Schnabel[289] auf dem Boden aufstieß. Als das Fest zu Ende war und das Brautpaar in seine Kammer ging, da zog die Dohle ihr Federgewand aus und ward zur schönsten Frau. Aber am andern Morgen in aller Früh schlüpfte sie wieder in ihr Federgewand, und als der Prinz erwachte, saß sie als Dohle vor seinem Bette. So machte sie es jeden Abend und jeden Morgen, und alle Mühe, die der Prinz sich gab, um sie zu überreden, ihr Federgewand abzulegen, war umsonst.

Da befahl der Prinz seinen Dienern, den Backofen drei Tage lang zu heizen, so daß er ganz glühend wurde, und auch drei Tage lang Wasser zu tragen. Nachdem nun alles fertig war, blieb der Prinz die Nacht über wach, und wie er merkte, daß seine Frau im tiefen Schlafe lag, stand er leise auf, nahm das Federgewand, schlich damit zum Ofen und warf es hinein. Als es nun verbrannte, da wachte die Frau von dem Geruche auf, lief zum Ofen und wollte ihr Federkleid herausreißen, aber es war zu spät, denn alles war verbrannt, und so mußte sie also Frau bleiben.

Eines Tages ging der Prinz mit seiner Frau zu einem großen Kirchenfeste und dort waren auch deren Eltern, und als die Mutter an der Seite des Prinzen eine wunderschöne Frau erblickte, glaubte sie, daß er die Dohle verstoßen und eine andere geheiratet habe. Sie ging also zu ihm und sprach: »guten Tag, lieber Schwiegersohn, wo hast du deine Dohle?« und der Prinz erwiderte, indem er auf seine Frau zeigte: »sieh her, hier steht sie.« Diese verbeugte sich vor ihrer Mutter nach der Sitte der jungen Frauen und küßte ihr die Hand, und darauf erzählten sie ihr, was sich zugetragen habe.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 288-290.
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