[32] 66. Lemonitza.

Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder, und erst nach langer Zeit bekamen sie ein Mädchen, das sie Lemonitza nannten; das wuchs und gedieh bis zu dem Alter, wo man die Kinder in die Schule schickt, und von da an ließen sie es von seiner Amme jedesmal in die Schule führen und wieder abholen. Der Lehrer dieser Schule war aber ein Menschenfresser, denn er behielt von seinen Schulkindern jeden Mittag eins in der Schule zurück und aß es auf, und wenn dessen Eltern sich bei ihm nach dem Kinde erkundigten, so sagte er stets, daß er es zusammen mit den andern aus der Schule entlassen habe. Darum war es ihm auch unlieb, daß die Königstochter stets von ihrer Amme nach und aus der Schule begleitet wurde, und er sagte daher zu ihr: »Lemonitza, du bist nun so groß, daß du allein zur Schule kommen kannst«, und das sagte er ihr so oft, bis das Mädchen es seiner Mutter sagte, und da diese nichts dawider hatte, so ging es am Nachmittag allein in die Schule. Es kam aber zu früh hin, und wie es die Treppe heraufkam, da sah es den Lehrer, wie er ein Kind verzehrte, und darüber erschrak es so, daß es seinen Schulsack fallen ließ und die Treppe herunterlief, aber auf der Straße stehn blieb. Nach einer Weile faßte es sich ein Herz und ging doch wieder in die Schule. Da fragte sie der Lehrer: »warum kamst du, und liefst wieder weg?« und sie antwortete:[32] »ich suchte meinen Schulsack.« Darauf sagte er: »der ist hier. Hast du Jemandem erzählt, was du gesehen hast?« – »Nein, Herr Lehrer! ich habe Niemandem etwas gesagt.« – Da ergriff es der Lehrer und schlug es so lange, bis sein Rücken braun und blau wurde, und es kam ganz erschreckt nach Hause. Als es nun die Amme eines Tags anzog, bemerkte sie die braunen und blauen Flecken auf seiner Haut. Da rief sie den König und die Königin, und diese fragten das Mädchen, »wer es geschlagen habe«; aber wie sie es auch hin und her fragen mochten, es antwortete stets, »daß es nicht geschlagen worden sei.« Darauf berief der König seine zwölf Räte, und diese befragten das Mädchen mehrere Tage hinter einander, und brachten es endlich so weit, daß das Mädchen den Namen des Lehrers bereits auf der Zunge hatte; wie es ihn aber aussprechen wollte, da füllte sich der Saal mit Dunst und führte das Mädchen weit weg in ein Schloß und setzte es dort in eine Kammer. Es war aber dort so kalt, daß das Mädchen so laut mit den Zähnen klapperte, daß es der Königssohn hörte, der unterhalb jener Kammer wohnte und herauf kam, um zu sehn, was das für ein Klappern sei. Als er das Mädchen erblickte, fragte er es: »bist du ein Mensch oder ein Geist?« und es antwortete: »ich bin ein Mensch, so wie du.« Da schlug der Königssohn ein Kreuz, nahm es bei der Hand und führte es in seine Gemächer und frage: »wie bist du hierher gekommen?« das Mädchen aber antwortete: »ich werde dir es sagen, sobald es Tag wird, jetzt ist nicht Zeit dazu.«

Sie behielten das Mädchen im Pallaste, und mit der Zeit verliebte sich der Königssohn in dasselbe und sagte seiner Mutter: »dieses Mädchen will ich zur Frau nehmen.« Die Königin aber antwortete: »ach mein Sohn, die schickt sich nicht für dich, denn wir halten sie[33] wie unsere Magd, und du willst sie zur Frau nehmen?« Darauf machte sie ihm jeden Tag neue Heiratsvorschläge, aber er wollte keine von allen diesen, und wurde endlich so siech vor Liebe, daß sein Leben bedroht war. Als das seine Mutter einsah, da änderte sie ihren Sinn und willigte in die Heirat. Sie richteten daher eine große Hochzeit an, und er nahm sie zur Frau.

Lemonitza kam bald in die Hoffnung, und sieben Monate darauf brach ein Krieg aus, und der Königssohn wurde dazu aufgeboten. Beim Abschiede empfahl er die junge Frau seiner Mutter und sprach: »wahre mir die Lemonitza wie deinen Augapfel.« Drauf zog er ab, und während er im Felde lag, gebar Lemonitza ein Söhnchen; das schrieben sie ihrem Gatten, und dieser schickte an seine Mutter einen Brief und darin stand: »Mutter, wahre mir die Lemonitza wie deinen Augapfel.«

Fünf Tage nach der Geburt des Kindes erschien der Lehrer in der Nacht vor dem Bette der Mutter und sprach zu ihr: »guten Abend, Lemonitza, wie geht es dir?« und diese antwortete: »recht wohl, Herr Lehrer.« Drauf sprach er: »Sage mir, wen von euch beiden ich fressen soll, dich oder deinen Knaben?« Da rief Lemonitza: »lieber mich, als das Kind!« Da entstand ein Dunst, und in diesem packte der Lehrer das Kind und verschwand.

Als am andern Morgen die Großmutter in die Kindbettenstube kam, fragte sie die Wöchnerin, wo das Kind sei; diese antwortete, sie wisse es nicht. Als die Großmutter aber mit Fragen nicht aufhörte, sagte ihr Lemonitza endlich, daß sie Hunger bekommen und es aufgegessen habe. Da wurde die Großmutter zornig und rief: »ich wollte, du hättest den Nimmersatt gefressen; hast du dein Kind gefressen, so wirst du noch uns alle fressen, wie wir hier sind.« Drauf schrieb sie an ihren Sohn: »lieber Sohn,[34] dein Kind ist gestorben, aber gräme dich nicht.« Als dieser den Brief gelesen, kehrte er sogleich mit Pauken und Trompeten nach Hause zurück, um seine Frau zu trösten, und sagte zu ihr: »gräme dich nicht, wenn wir nur gesund bleiben.«

In kurzer Zeit kam Lemonitza wieder in die Hoffnung, und in ihrem achten Monat kam an den Königs sohn abermals ein Aufgebot in den Krieg zu ziehen, und als er abgezogen war, sagte seine Mutter zur Lemonitza: »diesmal hüte dich, daß du dein Kind nicht wieder frissest«; und als sie mit einem Mädchen genas, wiederholte sie so oft als möglich: »wenn dich hungert, so sag' es uns, damit wir dir zu essen bringen.« Als es Abend wurde, setzte sie drei Kindsfrauen in das Zimmer, um sie zu bewachen. Aber in der Nacht schliefen sie alle drei ein, und da erschien wiederum der Lehrer vor dem Bette der Wöchnerin und sagte: »guten Abend, Lemonitza, wie geht es dir?« und diese antwortete: »recht gut, Herr Lehrer.« Drauf sprach er: »was willst du lieber, daß ich dich oder dein Kind fressen soll?« Da rief sie: »lieber mich, als mein Kind.« Der Lehrer aber nahm das Kind und verschwand.

Am andern Morgen kam die Großmutter in die Wochenstube, um nach der Wöchnerin und dem Kinde zu sehen, und suchte vergebens nach dem Kinde, und nach vielem Fragen sagte ihr Lemonitza, daß sie es gegessen habe. Da wurde die Alte zornig und sagte: »jetzt werde ich es deinem Manne schreiben, daß du das erste und auch das zweite Kind gefressen hast«, und tat es auch. Als ihr Sohn diesen Brief erhielt, da eilte er mit dem Vorsatze nach Hause, seine Frau zu töten, und sprach zu ihr: »warum hast du deine Kinder gefressen? du wirst uns noch alle fressen, wie wir hier sind.« Da fing Lemonitza[35] so sehr zu weinen an, daß er Mitleid mit ihr hatte und sie leben ließ.

Als nun Lemonitza zum dritten Male in die Hoffnung kam, da lag ihm seine Mutter an, daß er nicht von Haus gehen solle. Nach acht Monaten aber erhielt er abermals ein Aufgebot in den Krieg zu ziehen, und sein Vater sprach zu ihm: »bleibe diesmal zu Hause, damit du dein Kind beschützen kannst; an deiner Statt will ich zu Felde ziehen«; und so blieb der Sohn diesmal daheim. Die Lemonitza kam nun mit einem Knaben nieder, und die Großmutter sprach zu ihrem Sohne: »hüte das Kind, damit sie nicht in der Nacht aufsteht und es frißt.« Am Abend nahm dieser also das Kind in seine Arme und das Schwert in seine Hand, und abermals erschien der Lehrer und sagte: »guten Abend, Lemonitza, wie geht es dir?« und diese antwortete: »ganz gut, Herr Lehrer;« er aber fragte: »was willst du lieber, daß ich dich fresse, oder dein Kind?« Da rief diese: »lieber mich, als mein Kind.« Doch er sagte: »mich verlangt mehr nach dem Kind.« Als er es jedoch dem Vater aus den Armen nehmen wollte, da sprang dieser auf und schlug dem Lehrer mit dem Schwerte den Kopf ab. – Wie nun die Lemonitza sah, daß er tot war, da rief sie: »gelobt sei der Herr, daß ich von ihm befreit bin und das Kind gerettet ist.«

Am andern Morgen holte sie ihre Schwiegermutter herbei und zeigte ihr den Leichnam und sprach: »dieser ist es, welcher meine Kinder gefressen hat, und nicht ich.« Nun erst erzählte sie, weß Kind sie sei, und sie schrieben sogleich an ihren Vater, daß seine Tochter wieder gefunden worden sei, die er verloren habe, und als dieser kam, stellten sie eine neue Hochzeit an.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 32-36.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Vögel. (Orinthes)

Die Vögel. (Orinthes)

Zwei weise Athener sind die Streitsucht in ihrer Stadt leid und wollen sich von einem Wiedehopf den Weg in die Emigration zu einem friedlichen Ort weisen lassen, doch keiner der Vorschläge findet ihr Gefallen. So entsteht die Idee eines Vogelstaates zwischen der Menschenwelt und dem Reich der Götter. Uraufgeführt während der Dionysien des Jahres 414 v. Chr. gelten »Die Vögel« aufgrund ihrer Geschlossenheit und der konsequenten Konzentration auf das Motiv der Suche nach einer besseren als dieser Welt als das kompositorisch herausragende Werk des attischen Komikers. »Eulen nach Athen tragen« und »Wolkenkuckucksheim« sind heute noch geläufige Redewendungen aus Aristophanes' Vögeln.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon