117. Der Dreiäugige.

[225] Es war einmal ein Holzhauer, der hatte drei Töchter. Er hatte auch drei Esel, und mit diesen brachte er Holz zu Markte, und so nährte er sich und die Kinder. Allein dies reichte nicht aus, und er war sehr betrübt, daß er nie so viel erübrigen konnte, ihnen eine Kleinigkeit mit nach Hause zu bringen. Eines Tages jedoch gelang es ihm, Geld genug für ein Kopftuch zu erübrigen, und die Töchter freuten sich sehr, als sie es sahen, und die Älteste wollte es umbinden. Sie tat dies also und setzte sich an das Fenster des Stübchens, welches auf die Gasse hinausging. Dort erblickte sie ein vorübergehender Landmann und sie gefiel ihm sehr. Er erkundigte sich daher bei den Nachbarinnen, ob sie noch unverheiratet wäre, und als er hörte, daß dem so sei, bat er sie, für ihn um das Mädchen zu werben; und wenn sie auch nichts hätte, er kehre sich nicht daran; er nehme sie, wie sie stehe und gehe. Die Eltern waren natürlich mit diesem Antrag sehr zufrieden und gaben sie ihm.

Als nun das Mädchen in das Haus ihres Mannes kam, wie war da dieser so glücklich! Er übergab ihr hundert und einen Schlüssel und sagte ihr, sie könne hundert Zimmer öffnen, das hunderteinte aber solle sie nicht aufmachen, denn es wäre ganz leer. »Kurz um,« sprach er, »da der Schlüssel dir doch nichts nütze ist, so[225] gib ihn mir lieber zurück,« und sie gab ihn. Die andern Zimmer aber öffnete sie und sah darin große Schätze und erstaunte darüber sehr. Als sie jedoch dieselben genug angestaunt, so fragte sie sich, warum ihr wohl so gewaltige Reichtümer anvertraut worden wären, das eine Zimmer dagegen nicht; sie wollte daher auch in dies hineingehen. Sie gab deshalb eines Tages acht, wo ihr Mann den Schlüssel hinlegte, nahm ihn dann fort und öffnete das Zimmer. Sie sah sich darin um und sah nichts als vier leere Wände und einen großen Kasten, überdies aber auch ein Fenster, das auf die Straße ging. »Da seh' Einer einmal meinen Mann!« sprach sie, »wozu hat er wohl das Fenster da auf die Straße hinaus? Damit ich aber nicht hinaussehe, hält er das Zimmer verschlossen.« Sie setzte sich also an das Fenster, hatte aber nicht lange gesessen, so sah sie eine Leiche vorüberkommen; dieser folgten jedoch weder weinende Anverwandte noch sonst wer, weshalb die junge Frau selbst zu weinen anfing, bei dem Gedanken, daß es ihr auch so gehen würde, da ihr Mann niemand von ihrer Familie zu ihr lassen wollte. Als nun die Leiche beerdigt und die Leute fort waren, sah sie, wie ihr Mann auf den Begräbnisplatz kam und dort sein Kopf so groß wurde wie ein Scheffel, und in dem Kopfe hatte er drei Augen, seine Hände wurden so lang, daß sie die ganze Welt zu umfassen schienen, mit ellenlangen Nägeln an den Fingern, und dann fing er an, den Leichnam auszugraben und zu verzehren. Bei diesem Anblick tat sie sich Gewalt an, bis sie die volle Gewißheit hatte, daß er ihn wirklich verzehrte; dann aber wurde sie von einem heftigen Fieberschauer ergriffen und mußte sich zu Bett legen.

Nach langer Zeit kehrte der Mann nach Hause, ging seiner Gewohnheit nach in das verschlossene Zimmer,[226] schaute sich um und bemerkte die Spuren von Schritten. »Oho!« rief er aus, »was ist das? meine Frau muß wohl hier gewesen sein und wahrgenommen haben, was ich ihr verborgen hielt!« Er legte dann in den Kasten das, was er mitgebracht hatte, die Haut, die Gebeine und die Haare, und sah sich demnächst noch genauer um, so daß er auch das offne Fenster erblickte. Er machte es zu und sprach: »Ich will doch einmal sehen, was sie zu mir sagen und ob sie es mir gestehen wird.« Er ging also zu ihr und fand sie mit drei Decken zugedeckt, weil das Fieber sie noch schüttelte, und als sie ihn kommen sah, wurde dies infolge ihrer großen Furcht noch stärker. Da sprach er zu ihr: »Was fehlt dir denn, liebe Frau! bist du krank?« – »Ach,« antwortete sie, »ich werde sterben!« und indem sie dies sagte und ihn ansah, verkroch sie sich vor lauter Angst unter die Decken. Da sprach jener wieder: »Sag' mir doch, soll ich vielleicht deine Mutter holen?« – »Ach ja, lieber Mann, wenn du so gut sein willst,« versetzte die Frau. Er ging hinaus, verwandelte sich in ihre Mutter und trat in dieser Gestalt wieder zu der Kranken hinein. Als solche sagte er zu ihr: »Was hast du denn, du Ärmste? Dein unbarmherziger, liebloser Mann peinigt dich wohl den ganzen Tag über? Sprich, Tochter, was hat er dir getan, daß du so krank bist?« – »Er hat mir nichts getan,« antwortete die junge Frau, »ich bin von selbst krank geworden.« – »Liebe Tochter,« fuhr die angebliche Mutter fort, »du hast so viele Reichtümer, gib mir doch auch etwas davon, damit ich mein und der Meinigen Leben friste.« – »Nein, liebe Mutter, ich kann nicht,« versetzte die junge Frau, »aber wenn mein Mann kommt, so bitte ihn um etwas, denn ich selbst darf nichts fortgeben.« Als der Mann nach längerer Zeit sah, daß seine Frau[227] immer das nämliche wiederholte, stand er auf, grüßte und ging fort. Nachdem er indes seine eigentliche Gestalt wieder angenommen hatte, kam er zurück und sprach: »Wie geht es dir, liebe Frau, ist deine Mutter hier gewesen?« – »Weißt du das nicht, lieber Mann?« antwortete sie, »sie hat ein paar Groschen von mir verlangt, denn sie ist in großer Not; da du aber nicht da warst, habe ich ihr nichts gegeben.« – »Warum hast du das getan?« sprach jener; »bist du denn nicht Herrin im Hause?« – »Nein,« antwortete die Frau, »du hättest ihr etwas geben müssen und nicht ich.« Schließlich sprach er zu ihr: »Soll ich dir deine andern Verwandten holen?« – »Ach ja, lieber Mann,« sprach die, »tu' das.« Auf diese Weise nun ging es mit allen den übrigen Verwandten, bloß die Großmutter war noch übrig; deshalb sagte er: »Willst du auch deine Großmutter?« – »Ach ja,« erwiderte sie, »hole mir doch meine gute Großmutter.« Da ging er hinaus und kam nicht lange darauf als ihre Großmutter mit all ihren Schlauheiten wieder. Sobald aber die junge Frau sie erblickte, rief sie: »Grüß dich Gott, liebe Großmutter, grüß dich Gott! Komm, liebes Großmütterchen, und laß dir meine Leiden erzählen.« – »Sprich, Töchterchen,« antwortete die Alte, »sprich und erzähle mir, was der unbarmherzige Mensch dir antut.« Da fing denn die junge Frau ihre Geschichte an, was für eine Gestalt sie ihren Mann hatte annehmen und was sie ihn hatte tun sehen. Als sie damit ganz fertig war, stieß der Mann ein lautes Geschrei aus und zugleich wurde er wieder der Dreiauge, ganz so wie sie ihn unter den Gräbern gesehen. »O du Bestie!« rief er aus; »ich habe die Gestalt aller deiner Verwandten angenommen, und du hast dich nicht täuschen lassen; deiner Großmutter allein aber wolltest du das Geheimnis mitteilen, daß ich[228] der Dreiauge bin? Hättest du es bewahrt, so hätte ich dich nicht aufgefressen; so aber mußt du dran und kommst nicht lebendig aus meinen Händen.« Als sie nun sah, wie die Sache stand und daß sie kein Erbarmen zu erwarten hatte, so verließ sie das Bett und machte sich zur Flucht bereit. Inzwischen ging Dreiauge hin und zündete ein großes Feuer an, dessen Flamme bis zum Himmel emporzüngelte; dann nahm er einen Bratspieß und machte ihn glühend, ging darauf zu seiner Frau und sprach zu ihr: »Sei so gut und komm, denn der Bratspieß erwartet dich. Was soll ich tun, da ich doch einmal geschworen habe, dich auf diese Weise zu töten und zu verzehren? sonst hätte ich dich verschlungen.« – »Vergib, Herr,« antwortete sie; »ich gehöre dir ja doch zu jeder Zeit; darum flehe ich dich an, laß mich noch zwei Stunden am Leben, bis ich gebetet und Buße getan habe, und dann verzehre mich.« Hierauf ging sie hin, nahm die Schlüssel zu jenem Zimmer, und nachdem sie es geöffnet, sprang sie durch das Fenster auf die Heerstraße. Dort lief sie immer fort, um jemand zu finden, der sie rette, und so traf sie einen Kärner, den sie um Gottes und ihrer selbst willen beschwor, sich doch ihrer zu erbarmen und sie aus den Händen eines Dreiäugigen, der sie verfolgen und fressen wolle, zu erretten oder doch wenigstens ihr zu sagen, wie sie sonst Rettung finden könne; übrigens trage sie viel Geld bei sich, und das wolle sie ihm alles geben. »Wohin soll ich dich tun, um dich zu retten, liebes Frauchen?« antwortete der Kärner; »der Dreiäugige würde mich und mein Pferd sicherlich auffressen. Aber laufe weiter, so wirst du einen Kameltreiber des Königs treffen; der kann dich retten.« Da lief sie denn aus Leibeskräften weiter, bis sie den Kameltreiber einholte, welchen sie dann ebenso um Rettung[229] von dem Dreiäugigen anflehte. Wirklich auch erbarmte er sich ihrer, nahm einen Ballen Baumwolle von dem Kamel herab und versteckte sie darin.

Inzwischen hatte der Dreiäugige den Bratspieß gehörig glühend gemacht und rief dann: »Heda, wo bist du? Komm her, es ist Zeit!« Da aber die junge Frau nicht kam, so suchte er sie überall, fand sie jedoch nirgends. Endlich sah er das offene Fenster, sprang hinaus wie er stand und ging, und nachdem er sich rechts und links umgesehen, lief er die Heerstraße entlang. Als er den Kärner erblickte, rief er ihm zu: »Heda, Kärner! warte ein bißchen, ich will dich und dein Pferd auffressen.« Alle, die ihn auf der Landstraße sahen, starben entweder vor Schreck oder fielen in Ohnmacht; der arme Kärner aber hielt an, da er den Zuruf des Dreiäugigen hörte. Dieser sagte dann zu ihm: »Hast du nicht eine junge Frau vorbeilaufen sehen? Sprich!« – »So wahr Gott lebt, ich habe nichts gesehen, Herr!« antwortete jener, »aber laufe weiter, so wirst du einen Kameltreiber antreffen, der hat sie vielleicht gesehen.« Der Dreiäugige lief weiter und rief den Kameltreiber an, sobald er ihn gewahr wurde, worauf dieser stehen blieb und der Dreiäugige dann die nämliche Frage an ihn richtete. »Ich weiß nichts, ich habe nichts gesehen,« antwortete der Treiber. Da kehrte der Dreiäugige wieder um und sagte: »Ich will doch noch einmal zu Hause ordentlich suchen, vielleicht finde ich sie.« Als er dort angelangt war und sie wieder nicht fand, überlegte er bei sich und sprach: »Ich will den glühenden Bratspieß mitnehmen und bei dem Kameltreiber noch einmal genaue Nachsuchung halten.« Er nahm daher den Bratspieß auf die Schulter, sprang wieder zum Fenster hinaus und rief dem Kameltreiber zu, nachdem er ihn von neuem eingeholt: »Heda, Kameltreiber! warte[230] ein bißchen, ich will noch einmal genauer nachsehen.« Der Kameltreiber und die junge Frau waren vor Angst dem Tode nahe, auch jeder andere, der den Dreiäugigen mit dem Bratspieß sah, machte vor Furcht die Augen zu, denn man konnte den Anblick desselben nicht ertragen. »Rasch!« sagte er zu dem Treiber, »lade unverzüglich alle Ballen von dem Kamele ab,« und der arme Treiber mußte gehorchen, denn konnte er anders? Da stieß der Dreiäugige den glühenden Bratspieß in einen Ballen nach dem andern, wobei er natürlich auch zu dem kam, in welchem seine Frau versteckt war. »Jetzt ist's gut,« sprach er endlich, als er durch war, »du kannst nun weiterziehen!« Sobald er sich entfernt hatte, fragte der Kameltreiber die junge Frau, wie es ihr ergangen wäre und ob der Dreiäugige sie mit seinem Bratspieß getroffen hätte. »Freilich wohl,« antwortete sie, »er hat mich an den Fuß ganz ordentlich getroffen, doch habe ich den Bratspieß mit Baumwolle abgewischt, so daß keine Blutspuren daran sichtbar waren.« – »Laß es gut sein!« sagte der Treiber, »der König ist ein freundlicher Mann, und wenn ich dich zu ihm bringe, so wird er dich heilen lassen.« Der Kameltreiber langte in dem königlichen Schloß an und packte seine Ballen im Hofe ab, den aber, worin die junge Frau verborgen war, brachte er in die Stube, wo er schlief, obwohl in demselben Hofe. Als die Mägde dies sahen, so meinten sie, er wolle ihn stehlen und setzten den König davon in Kenntnis, der den Treiber alsbald vor sich kommen ließ und ihn fragte, warum er jenen Ballen Baumwolle versteckt hätte. »Gott erhalte dich lange Jahre!« antwortete der Treiber, »ich wollte den Ballen nicht stehlen, sondern die Sache hat ihren eigenen Grund, den ich dir mitzuteilen beabsichtigte. An dem Tage nämlich, wo ich die Baumwolle hierherholte,[231] verfolgte ein Dreiäugiger eine junge Frau, die er auffressen wollte, und aus Mitleid versteckte ich sie in dem Ballen, jetzt befindet sie sich also hier in deinem Schlosse;« und stehenden Fußes brachte er den Ballen in die Gegenwart des Königs, trennte ihn auf und ließ die junge Frau hervorkommen. Als diese den König erblickte, verbeugte sie sich vor ihm und flehte ihn an, es doch nicht bekannt werden zu lassen, daß die von dem Dreiäugigen verfolgte Frau in seinem Schlosse eine Zufluchtsstätte gefunden. »Was fürchtest du, meine Liebe?« sprach der König, »was kann er dir in meinem Palaste Böses zufügen?« Hierauf ließ er seinen Arzt holen, der ihr den Fuß verband. Sobald sie wiederhergestellt war, bat sie, man möchte ihr eine Verrichtung zuweisen, damit sie nicht müßig gehe, und sagte auf die Frage, was sie verstünde, daß sie sticken könne; zugleich verlangte sie ein Stück weißen Sammet, Seide, Perlen und Goldfäden, worauf sie alsbald den König auf seinem Throne und mit der Krone auf dem Haupte zu sticken begann. Da sie mit der Arbeit fertig war und sie dem König überreichte, geriet er außer sich vor Erstaunen über die Kunst derselben, und sagte deshalb eines Tages zu der Königin: »Eine bessere Schwiegertochter als dieses junge Frauenzimmer könnten wir nicht finden; was macht es aus, daß sie nicht von königlichem Geblüte ist? Ist sie sonst geschickt und verständig, so sagt sie mir zu; was denkst du davon?« – »Tu' wie du willst, Herr«, erwiderte die Königin; »ich bin damit einverstanden.« Alsbald ließen sie die junge Frau holen und sagten ihr, was sie vorhätten. Da fing sie an zu weinen und sprach: »Wie könnet ihr daran denken, dies zu tun? Mein Glück wäre zwar groß, wenn jedoch der Dreiäugige das hört, dann frißt er mich und euren Sohn auf. Wollet ihr aber gleichwohl eure Absicht[232] ausführen, so lasset einen sieben Treppen hohen Oberstock bauen, am Fuße der untersten Treppe eine Grube machen und diese dann mit einer Matte zudecken, auch alle Treppen mit Talg einschmieren; endlich wäre es auch gut, wenn die Hochzeit ganz heimlich des Nachts gehalten würde, so daß niemand außerhalb etwas davon vernähme.« Jedoch es kam anders; das Gerücht von der Hochzeit verbreitete sich von Mund zu Mund, und auch dem Dreiäugigen kam es zu Ohren, daß der Sohn des Königs sich mit seiner Frau verheirate. Sobald er dies hörte, ließ er eine Anzahl Mohren in Säcke kriechen und zog mit diesen als Kaufmann verkleidet nach dem Schlosse des Königs, wo er des Nachts gerade zu der Stunde ankam, als man sich zum Hochzeitsmahl niedersetzte. Da die Braut ihn unter den Tischgästen erblickte, erkannte sie ihn sogleich und gab der Schwiegermutter einen Wink, daß man ihn befragen solle, was für Ware er mitgebracht habe. Er antwortete, er führe Pistazien und Aleppo, getrocknete Aprikosen und Kastanien. Kaum hörte dies die Braut, so bestand sie darauf, einige von diesen Früchten zu kosten, weil sie ein unbesiegbares Verlangen danach trüge. Er aber sprach zu den Leuten: »Ich bitte um Nachsicht für jetzt; habet Geduld bis morgen früh, und dann sehr gerne.« Als der Lustigmacher des Königs, der auch bei Tisch saß, dies hörte, stieg er ohne Verzug hinab und wollte einige von diesen Früchten aus den Säcken holen, um die Braut zufrieden zu stellen. Indem er sich nun einem derselben näherte, sprach der darin verborgene Schwarze: »Ist es Zeit, Herr?« Ebenso ging es bei allen übrigen Säcken, weshalb er ohne Verzug in den Hochzeitssaal zurückkehrte und dort berichtete, daß in allen Säcken Menschen verborgen wären. Kaum hatte die Braut dies vernommen, so befahl sie, daß man den Kaufmann zwingen[233] solle, trotz der Nacht hinunterzugehen und die Säcke zu öffnen; dieser aber, der da sah, daß seine List entdeckt sei, machte sich davon und war nirgends mehr zu finden. Man ging also hinunter, und zwar in Begleitung des Henkers, und als man zu dem ersten Sacke kam, sagte eine Stimme von innen: »Ist es Zeit?« – »Jawohl!« antwortete man, und sobald der Schwarze herauskam, ward ihm der Kopf abgeschlagen, und ebenso geschah es mit allen übrigen. Hierauf sagte der König zu der Braut: »Habe nun keine Furcht mehr, liebe Schwiegertochter, es ist geschehen, wie du wünschtest, und alle Gefahr ist vorüber.« Inzwischen war die Schlafzeit herangekommen und die Hochzeitsgäste gingen zu Bett, sowie auch alle anderen Bewohner des königlichen Palastes. Kaum aber war jedermann zur Ruhe, so nahm Dreiauge seine wahre Gestalt an und ging hinauf in das Zimmer der Braut, um sie herabzuholen und zu verzehren, wobei er etwas Erde von einem Grabe auf den Bräutigam streute, damit er nicht aufwache. Als die junge Frau ihn an ihrem Bette sah, stieß und kneifte sie ihren Lagergenossen, damit er aufwache, aber umsonst. Schließlich packte sie der Dreiäugige und sprach zu ihr: »Sei doch so gut und stehe auf, liebe Frau, der Bratspieß erwartet dich. Was soll ich machen, da ich einmal geschworen habe, dich gebraten zu verzehren? Sonst würde ich dich hier gleich auf der Stelle verschlingen.« Hierauf nahm er sie bei der Hand und fing an, mit ihr die Treppen hinabzugehen. Als sie die ersten drei hinter sich hatten, sprach sie zu ihm: »Ich bitte dich, gehe voran, denn ich habe Furcht.« Er gab ihr nach, damit sie kein Geräusch mache und die andern nicht aufwecke, sonst hätte er sie gepackt. Als sie sich aber auf der untersten Treppe befanden, hielt sich die junge Frau mit der einen Hand so fest sie konnte an dem Geländer[234] an und gab zugleich mit der andern dem Dreiäugigen einen solchen Stoß, daß er infolge des Talgs ausglitt und in die Grube fiel, wo sich ein Löwe und ein Tiger befanden, die ihn zerrissen. Die Furcht aber, welche die junge Frau in dem Augenblick empfand, wo sie dem Dreiäugigen den Stoß gab, denn sie sprach zu sich selbst: »Wenn er nicht in die Grube gefallen ist, so wird er gleich wieder heraufkommen und mich fressen!«, hatte so auf sie gewirkt, daß sie der Länge nach ohnmächtig auf die Treppe niederfiel. Als es nun Tag wurde und der König nebst der Königin aufgestanden war, so warteten sie, bis das junge Ehepaar gleichfalls aufstünde, allein dies geschah nicht. Da sprach die Königin: »Ich will doch einmal sehen, was sie machen,« und fand ihren Sohn dem Anschein nach tot, die junge Frau aber ohnmächtig auf der Treppe. Der auf der Stelle herbeigerufene Arzt brachte jedoch beide rasch wieder zur Besinnung, worauf die Königin sie fragte, wie sie denn in einen solchen Zustand geraten wären, und die junge Frau ihr alles berichtete, was sich bei Nacht zugetragen hatte. Alsdann gingen sie nach der Grube, um zu sehen, was aus dem Dreiäugigen geworden war, und sie kamen gerade hin, als die wilden Tiere ihn eben ganz aufgefressen hatten. Nun erst wurde eine fröhliche Hochzeit gehalten, welche unter großem Jubel vierzig Tage und ebenso viele Nächte dauerte, und wo wir die Gäste gelassen haben, als wir hierher kamen.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 225-235.
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